Politik

Organspende: Zahlen rückläufig, neue Debatte über Reform

  • Montag, 16. Januar 2023
/picture alliance, photothek, Thomas Trutschel
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Berlin – Angesichts eines deutlichen Rückgangs bei lebensrettenden Organspenden in Deutschland kommt die Debatte über eine weitreichende Reform wieder in Gang. Die Zahl der Organspenden sank im vergan­genen Jahr deutlich.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach drängte heute auf einen neuen Anlauf für grundlegend andere Spendere­geln. „Das geltende Gesetz ist gescheitert“, sagte der SPD-Politiker. Viele Menschen seien zwar zur Organ­spende bereit, dokumentierten das aber nicht.

„Deswegen sollte der Bundestag einen erneuten Anlauf nehmen, über die Widerspruchslösung abzustimmen.“ Lauterbach sagte zur Be­gründung für einen neuen Anlauf: „Das sind wir denjenigen schuldig, die vergeblich auf Organspenden warten.“

Widerspruchslösung bedeutet, dass alle Menschen zunächst automatisch als Spender gelten sollen – außer man widerspricht. Ein erster Anlauf dazu war im Januar 2020 gescheitert. Stattdessen beschloss der Bundes­tag eine Entscheidungslösung – eine Gesetzesregelung, wonach Organspenden nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt bleiben.

Demnach soll aber eine stärkere Aufklärung mehr Bürger dazu bewegen, konkret über eine Spende nach dem Tod zu entscheiden. Ein Kernstück der Reform, ein neues Register, in dem man Erklärungen zu seiner Spende­bereitschaft online speichern kann, wurde bisher jedoch gar nicht eingerichtet. Die Umsetzung liegt weit hinter dem Zeitplan.

Zustimmung und Kritik

Lauterbachs Vorstoß stieß heute auf Gegenliebe und Kritik. „Die Einführung der Widerspruchslösung bietet die Chan­ce, dass mehr Organe gespendet werden und dadurch mehr Menschen ein lebensrettendes Spenderor­gan be­kommen“, sagte zum Beispiel Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU).

Unabhängig von der Einführung der Widerspruchslösung dürfe man bei den Anstrengungen nicht nachlassen, die Menschen dazu motivieren, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen und eine Entscheidung zu treffen.

Auch Baden-Württembergs Ressortchef Manne Lucha unterstützte einen neuen Anlauf. „Es sterben Menschen, weil nicht genügend Organe zur Verfügung stehen.“ Das dürfe nicht sein, sagte der Grünen-Politiker. Der Bundes­tag sollte das Thema schnell auf die Tagesordnung bringen. Organspenden gingen bundesweit seit Jahren zu­rück. „Anders als mit der Widerspruchslösung können wir dieses Problem nicht lösen.“

Kritik kommt hingegen aus der Riege der Abgeordneten, die damals die heute bestehende Entscheidungs­lösung in den Bundestag eingebracht hatten und sich damit durchsetzen konnten. „Das Gesetz als gescheitert zu erklä­ren, bevor es umfassend umgesetzt und seine Umsetzung evaluiert worden ist, halte ich für verfrüht“, sagte Kirs­ten Kappert-Gonther (Grüne) dem Deutschen Ärzteblatt.

Die Aufgabe von Karl Lauterbach als Gesundheitsminister sei es, im Schulterschluss mit den Ländern die von Bundestag beschlossenen Maßnahmen zur Stärkung der Organspende – insbesondere auch die Einrichtung des Onlineorganspenderegisters – zügig und umfassend umzusetzen.

„Dass die Zahlen der realisierten Organspenden zwischen den Bundesländern stark schwanken, könnte darauf hinweisen, dass die Strukturverbesserungen noch nicht überall gleich stark greifen“, sagte die Gesundheits­poli­ti­kerin der Grünen. Sie halte es für essenziell, die strukturellen Gründe zu identifizieren und zu beheben, damit überall all diejenigen Organspenderinnen und Organspender werden, die das wollten.

Auch der Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger (CSU) hatte sich damals gegen eine Widerspruchslösung ge­stellt. Er sagte dem Deutschen Ärzteblatt heute, Bundesgesundheitsminister Lauterbach und das ihm unter­ste­hende Bundesgesundheitsministerium hätten es nach mehr als einem Jahr Amtszeit nicht geschafft, das für die Ent­scheidungslösung maßgeblich notwendige Organspenderegister aufzubauen.

„Auf meine entsprechende Anfrage im letzten Sommer, wann das eigentlich für den 1. März 2022 geplante Re­gister tatsächlich arbeitsfähig sein wird, hieß es vom Bundesgesundheitsministerium, dass sich die Arbeiten wegen der anhaltenden Coronapandemie verzögerten, so dass es ,frühestens Ende 2022' freigeschaltet werden könne. Dies ist bekanntlich noch immer nicht der Fall“, so Pilsinger.

Er rief Bundesgesundheitsminister Lauterbach auf, „keine politischen Spielchen“ zu spielen, um eine politische Niederlage rückgängig zu machen. Der Minister solle vielmehr „endlich die organisatorischen Voraussetzungen“ für die von einer deutlichen Mehrheit des Bundestages beschlossene Entscheidungslösung schaffen.

„Wie Minister Lauterbach auf die Idee kommen kann, gerade jetzt das Thema Widerspruchslösung bei der Organ­spende wieder aufzumachen, kann ich in keiner Weise nachvollziehen“, sagte Kathrin Vogler (Linke) dem Deutschen Ärzteblatt. Die Entscheidungslösung, die im Bundestag eine überdeutliche Mehrheit gehabt habe, sei „noch nicht ansatzweise umgesetzt“. „Hier betreibt das Gesundheitsministerium unter Karl Lauterbach ebenso wie unter Jens Spahn schlicht Arbeitsverweigerung.“

Vogler verwies darauf, dass die desaströse Lage in den Krankenhäusern durch eine Widerspruchslösung auch nicht verändert werde. „Wir wissen schon lange, dass das entscheidende Nadelöhr bei der Organentnahme nicht die fehlende Zustimmung der potenziellen Organgeber oder ihrer Angehörigen ist“, sagte sie. Es sei vielmehr die Belastung der Intensivstationen.

„Ich finde, der Minister sollte sich darauf konzentrieren, hier für Verbesserungen zu sorgen und damit die Bedin­gungen zu schaffen, die für die Organentnahme notwendig sind, anstatt sich mit einem Projekt zu verkämpfen, mit dem er bereits in der letzten Legislaturperiode eine krachende Niederlage eingefahren hat und von dem überhaupt keine Verbesserung für die Versorgung von Patienten auf der Warteliste für Transplantationen zu erwarten ist“, so Vogler.

Einbruch der Zahlen

Wie die Deutsche Stiftung Organtransplanta­tion (DSO) heute mitteilte, ist sowohl die Zahl der Spender als auch die Zahl der Transplantationen im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen.

Für 2022 verzeichnet die Stiftung ein Minus von 6,9 Prozent bei der Zahl der Spender. In den vergangenen zwölf Monaten haben 869 Menschen nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe gespendet. Dies sind 64 weni­ger als im Vorjahreszeitraum und entspricht 10,3 Spendern pro eine Million Einwohner, wie die DSO mitteilte.

Auch die Summe der entnommenen Organe, die für eine Transplantation an die internationale Vermittlungs­stelle Eurotransplant gemeldet werden konnten, sank auf 2.662 (Vorjahreszeitraum: 2.905). Damit ging die Zahl der postmortal entnommenen Organe um 8,4 Prozent im Vergleich zu 2021 zurück.

Zeitgleich konnten in den 46 deutschen Transplantationszentren auch weniger Organe eingesetzt werden: Ihre Zahl sank von 2.979 im Jahr 2021 auf 2.795 Organe (2022). Damit wurde 2.695 schwer kranken Patienten durch ein oder mehrere Organe eine bessere Lebensqualität oder sogar ein Weiterleben geschenkt (2021: 2.853). Gleichzeitig stehen in Deutschland derzeit rund 8.500 Menschen auf den Wartelisten für ein Organ.

Aus Sicht der DSO spielen mehrere Gründe für die Entwicklung der Organspendezahlen im vergangenen Jahr eine Rolle. Die Coronapandemie und die daraus resultierenden Krankenstände beim Personal in den Kliniken belasteten Anfang 2022 das gesamte Gesundheitssystem – dies trug wesentlich zu dem starken Einbruch der Organspendezahlen um 30 Prozent im ersten Quartal 2022 bei, wie der Medizinische Vorstand der DSO, Axel Rahmel, erklärte.

„Der häufigste Grund, warum eine Organspende nicht erfolgt, ist die fehlende Einwilligung“, so Rahmel. Mit dem zunehmenden Alter der Spender spielten aber auch medizinische Ausschlussgründe eine immer größere Rolle. Im vergangenen Jahr war bei der Hälfte der möglichen Organspenden, die nicht realisiert werden konnten, eine fehlende Einwilligung der Grund.

Gleichzeitig sei auffällig, dass diese Ablehnung der Organspende in weniger als einem Viertel der Fälle auf einem bekannten schriftlichen (7,3 Prozent) oder mündlichen (16,3 Prozent) Willen der Verstorbenen basierte, so Rahmel.

In 42 Prozent sei die Ablehnung aufgrund des vermuteten Willens der Verstorbenen erfolgt, 35 Prozent der Ablehnungen beruhten auf der Einschätzung der Angehörigen nach ihren eigenen Wertvorstellungen, da ihnen nicht bekannt war, was die oder der Verstorbene zum Thema Organspende gewünscht hätte.

Die Entwicklung zeige, so Rahmel, wie sensibel und volatil das System der Organspende auf Störungen rea­giere und damit aus dem Takt gerate: „Wir brauchen das volle Engagement der Ärztinnen, Ärzte und Pflege­kräfte in den Kliniken, die Unterstützung der Politik und vor allem auch die Zustimmung der Bevölkerung.“ Rahmel fordert, es sei an der Zeit, die Organspende endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen.

Die Umfragen in der Bevölkerung zeigten immer wieder, dass acht von zehn Bundesbürgern die Organspende befürworten. „Angehörige entscheiden sich aus Unsicherheit aber häufig dagegen, da der Wille des Verstor­benen nicht bekannt ist“, so Rahmel. Etwas ändern könnten nur Aufklärung und möglicherweise auch der An­stoß über eine Widerspruchsregelung, wie von Bundesgesundheitsminister Lauterbach im vergangenen Jahr vorgeschlagen.

dpa/kna/may

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