Politik

Reform der Notfallversorgung muss Patientensteuerung verbessern

  • Donnerstag, 20. Juni 2024
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Berlin – Die Reform der Notfallversorgung in Deutschland sollte in erster Linie zu einer besseren Patientensteuerung führen. Dafür sollten neben einem einheitlichen Ersteinschätzungsverfahren auch eine Hotline-First-Strategie zum Einsatz kommen und eine Stärkung der Telemedizin. Das sind zentrale Empfehlungen eines Gutachtens, das im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vom Aqua-Institut und vom Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) angefertigt wurde.

Basis der Empfehlungen ist eine Analyse der Notfallversorgung in England, Dänemark und den Niederlanden. Heute wurden die Ergebnisse des Gutachtens auf einem Symposium der KBV vor dem Hintergrund der Notfallreform diskutiert, die das Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor kurzem auf den Weg gebracht hat.

Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KBV, Stephan Hofmeister, fasste die wichtigsten Aussagen des Gutachtens zusammen. „Alle drei untersuchten Länder wenden das gleiche Grundprinzip für die Versorgung außerhalb der Praxissprechzeiten an“, sagte er. „Dazu gehört zunächst einmal eine Hotline-First-Strategie, also die Ersteinschätzung per Telefon. Sie ist die Voraussetzung für den Patienten oder die Patientin, überhaupt einen akuten Versorgungsanspruch nachzuweisen, eine Art Akkreditierung.“

Auf ihrer Basis erfolge die Zuordnung in eine angemessene Versorgungsebene. „Dies kann eine Notfallpraxis, ein aufsuchender Notdienst oder auch eine telemedizinische Versorgung sein“, so Hofmeister. „In allen drei Ländern können die den jeweiligen Fall übernehmenden Versorgungseinheiten, bis hin zum Rettungsdienst, auf die Ergebnisse der Ersteinschätzung zugreifen, so dass Doppelerhebungen vermieden werden und ein bruchfreier und standardisierter Informationsfluss gewährleistet ist.“

„Harte Tür“ in anderen Gesundheitssystemen

„Man könnte also sagen, dass in anderen Ländern für die Versorgung zu sprechstundenfreien Zeiten dasselbe Prinzip gilt, das auch Berliner Clubgänger kennen, nämlich das Prinzip der ‚harten Tür‘“, fuhr Hofmeister fort. „Niemand kommt rein, der zuvor nicht entsprechend begutachtet wurde. Das mag im ersten Moment ungnädig klingen, ist aus meiner Sicht aber unabdingbar, wenn wir die immer weiter klaffende Lücke zwischen der Nachfrage nach medizinischen Leistungen zu jeder Zeit und überall einerseits und den begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen andererseits unter Kontrolle bringen wollen.“

Der Referentenentwurf für ein Notfallgesetz verfolgt das Ziel, „durch eine präzisere Steuerung die Notaufnahmen und den Rettungsdienst zu entlasten und Patientinnen und Patienten, die ambulant behandelt werden können, jederzeit in eine geeignete Versorgungsstruktur zu steuern“. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die KVen dazu verpflichtet werden, durchgängig eine telemedizinische sowie eine aufsuchende Versorgung bereitzustellen.

Die bisherigen Aufgaben der Terminservicestellen im Bereich der Akutfallvermittlung sollen künftig sogenannte Akutleitstellen der KVen wahrnehmen. Diese sollen mit den Rettungsleitstellen in einem „Gesundheitsleitsystem“ vernetzt werden, wobei eine digitale Fallübergabe mit medienbruchfreier Übermittlung bereits erhobener Daten wechselseitig möglich sein soll.

Notfallgesetz erst im August im Kabinett

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte vor kurzem angekündigt, dass auch eine Reform des Rettungsdienstes vorgesehen sei, diese jedoch in keinem eigenen Gesetz vorgenommen werden solle. Stattdessen sollen die Inhalte voraussichtlich über Änderungsanträge in das Notfallgesetz aufgenommen werden. Ein solches Vorgehen deutete heute bei der KBV auch der Leiter der Abteilung Gesundheits­versorgung und Krankenversicherung im BMG, Michael Weller, an. Er äußerte sich zuversichtlich, dass die Regierung in dieser Legislaturperiode noch die Notfallreform und die Reform des Rettungsdienstes abschließen können. Allerdings soll Weller zufolge das Notfallgesetz nicht im Juli im Kabinett beraten werden, wie es ursprünglich vorgesehen war, sondern im August.

Die Notfallreform solle dabei zeitgleich mit der Krankenhausreform angegangen werden, da beide Bereiche miteinander zusammenhingen. Wenn die Regelungen zur Reform des Rettungsdienstes noch in den Kabinettsentwurf des Notfallgesetzes aufgenommen würden, der dann im August ins Kabinett gebracht wird, „sind wir gut im Zeitplan“, meinte Weller. Dann sei noch ausreichend Zeit für das parlamentarische Verfahren nach der Sommerpause. Das Notfallgesetz habe dann realistische Chancen, im Jahr 2025 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht zu werden.

Entscheidung nicht den Bürgern überlassen

Hofmeister betonte, dass es mit den Terminservicestellen der KVen bereits gute Strukturen in Deutschland gebe. „Mit der bundesweiten Nummer 116117 des KV-Systems haben wir in Deutschland ein umfassendes Angebot, dass eine Hotline-First-Strategie ermöglicht“, sagte er. „Diese Strukturen müssen aber noch ausgebaut und skaliert werden.“ Heute finanzierten die KVen die Terminservicestellen überwiegend selbst. Das sei skalenmäßig zu klein. „Wenn wir ein solches Angebot für die ganze Bevölkerung rund um die Uhr machen wollen, brauchen wir eine Strukturfinanzierung, die vom Gesetzgeber auf den Weg gebracht werden muss“, betonte Hofmeister.

Er erklärte, wie sich die KBV künftig die Patientensteuerung in der Notfallversorgung vorstellt. „Wir fordern nicht, dass die Patientinnen und Patienten keinen Zugang zur Notfallversorgung mehr bekommen sollen. Sie sollen alle angehört werden. Und wir wollen ihnen dafür ein Angebot machen. Aber die Fachleute sollen danach entscheiden, welche Versorgung angemessen ist. Diese Entscheidung dürfen wir nicht den Bürgerinnen und Bürgern überlassen. Denn sie können diese Entscheidung nicht treffen.“

Nummernziehen in der Notaufnahme zeigt schlechte Steuerung

Martin Scherer vom UKE, einer der Autoren des Gutachtens, kritisierte, dass der niedrigschwellige Zugang ins System der Notfallversorgung sich heute selbst konterkariere. Er berichtete von einem Fall, bei dem eine Patientin dringend notfallmedizinischer Hilfe bedurfte, sie in der Notaufnahme des angesteuerten Krankenhauses aber wie alle anderen Patienten eine Nummer ziehen musste.

„Das zeigt, dass unsere Patientensteuerung in Deutschland heute nicht gut ist“, sagte er. „Hier hätte ein vorgeschalteter Mechanismus mit einer Ersteinschätzung und einer digitalen Akte sehr geholfen.“ Er forderte eine Priorisierung in den Notaufnahmen, bei der Patientinnen und Patienten identifiziert werden, die besonders dringend medizinische Hilfe benötigen.

Fast-Lane-Regelung für dringende Fälle

Weller vom BMG wies darauf hin, dass im Referentenentwurf des Notfallgesetzes eine entsprechende Fast-Lane-Regelung vorgesehen sei. Denn es solle eine Regelung für eine bevorzugte Behandlung für Patientinnen und Patienten gefunden werden, die einen dringenden Behandlungsbedarf haben.

„Genau das kann ja das Ergebnis der telefonischen Ersteinschätzung sein“, sagte Hofmeister, „dass ein Patient als Prio 1 eingestuft und direkt ins Krankenhaus geschickt wird. Unter einer bevorzugten Behandlung verstehe ich, dass dieser Patient im Krankenhaus dann sofort behandelt wird und keine Nummer mehr ziehen muss.“

Mehr Telemedizin in der Notfallversorgung

Auch die Autoren des Gutachtens betonen, dass Ersteinschätzungsverfahren in der Notfallversorgung die Dringlichkeit der Weiterbehandlung herausfinden sollen. „Die Beurteilung von Dringlichkeit und Versorgungsbedarf schafft die Grundlage für ein gestuftes Akut- und Notfallversorgungsmodell und damit die effiziente, bedarfsgerechte Nutzung der Ressourcen von Notaufnahmen der Krankenhäuser, kassenärztlichen Angebote außerhalb der Sprechstundenzeiten und der Regelversorgung“, schreiben sie. „Ein flächendeckendes einheitliches Ersteinschätzungsverfahren muss die Grundlage der Patientensteuerung in die geeignete Versorgungstruktur sein.“

Um den fahrenden Notdienst und die Vor-Ort-Anlaufstellen der ambulanten Notfallversorgung zu entlasten, schlagen die Autoren des Gutachtens zudem vor, die Rolle der Telemedizin zu stärken. Auch eine Vorschaltung der Telemedizin vor einem potenziellen aufsuchenden Termin oder einer Vorstellung in Präsenz sollte geprüft werden. In England habe eine Telemedicine-First-Strategie dazu geführt, dass bis zu 40 Prozent der Fälle vom aufsuchenden Notdienst in die Telemedizin oder zu Äquivalenten an Notfallpraxen geführt habe.

Zudem empfehlen die Autoren des Gutachtens, Terminbuchungen durch die Einrichtungen der ambulanten Notfallversorgung in die hausärztliche Versorgung zu ermöglichen, um auf diese Weise eine bruchfreie Weiterbehandlung gewährleisten zu können. Zur Entlastung des ärztlichen Personals im aufsuchenden Notdienst und die Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung sollte zudem der Einsatz von nichtärztlichem Personal, zum Beispiel Gemeindenotfallsanitäter, verstärkt werden.

fos

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