Social Prescribing: Europäisches Forschungsprojekt zur Wirksamkeit eines Sozialen Rezepts gestartet

Berlin – Um die Lücke zwischen hausärztlicher Versorgung und sozialen, nichtmedizinischen Unterstützungsangeboten zu schließen, wird unter Federführung der Charité – Universitätsmedizin Berlin in den kommenden fünf Jahren das Potenzial von Social Prescribing (SP) bei benachteiligten Personengruppen untersucht.
22 europäische Gesundheits- und Forschungseinrichtungen in elf Ländern beteiligen sich an dem europäischen Social-Prescribing-Projekt (SP-EU), das von Wolfram Herrmann vom Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Berliner Charité geleitet wird. Die Europäische Kommission unterstützt das Vorhaben mit rund 6,9 Millionen Euro.
Social Prescribing ist ein Konzept, um Menschen mit sozialen Problemen aus der hausärztlichen Versorgung an Angebote vor Ort zu vermitteln. Sie erhalten ein „soziales Rezept“ und werden von Hausärztinnen und Hausärzten an geschultes Fachpersonal, sogenannte Link Workers, überwiesen. Diese helfen ihnen, mit Gruppen Kontakt aufzunehmen oder vermitteln den Betroffenen Aktivitäten und soziale Dienstleistungen in der Umgebung.
Auch soziale Belastungen könnten krank machen, erklärte Christoph Heintze, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Charité, gestern in Berlin bei der Kick-off-Veranstaltung zum Projekt SP-EU. Das Soziale Rezept solle den Zugang zu vielfältigen Unterstützungsmöglichkeiten erleichtern.
Während bisher der Ansatz nicht speziell auf die Bedürfnisse besonders gefährdeter Personengruppen zugeschnitten gewesen sei, konzentriere sich das neue europäische Projekt insbesondere auf ältere alleinlebende Menschen, LGBTIQ-Personen sowie Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten in erster Generation. Der Standort Berlin werde den Fokus auf die queere Community legen.
Berlin sei nicht nur die Hauptstadt von Deutschland, sondern auch eine Hauptstadt für vulnerable Gruppen, betonte gestern Ellen Haußdörfer, Staatssekretärin für Gesundheit und Pflege im Land Berlin. Social Prescribing könne das Leben von vulnerablen Gruppen verbessern, ist sie überzeugt. Es komme in Zukunft darauf an, wissenschaftliche Ergebnisse in die Realität und die einzelnen Communities zu übertragen.
Auch Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), sieht großen Bedarf für ein „soziales Rezept“. Er begrüßte gestern den Start des europäischen Projektes.
„Social Prescribing berührt zentrale Aspekte des hausärztlichen Handelns“, betonte er bei der Kick-off-Veranstaltung von SP-EU in Berlin. Soziale Determinanten hätten bei der Versorgung eine große Bedeutung, so Reinhardt. Auch während seiner hausärztlichen Tätigkeit erlebe er persönlich immer wieder, wie wichtig funktionierende soziale Beziehungen für seine Patientinnen und Patienten seien.
Das Projekt SP-EU soll die europäischen Gesundheitssysteme in die Lage versetzen, das Soziale Rezept als skalierbare, sichere, kosteneffiziente Lösung zu implementieren, um einen gleichberechtigten Zugang zu nachhaltiger Versorgung zu gewährleisten. Es sei ein „Flaggschiff“, betonte gestern der Prodekan für Forschung der Berliner Charité, Ulrich Kintscher.
Konkret verfolgt SP-EU in den nächsten fünf Jahren einen Mixed-Methods-Ansatz: SP-Adaptionen an den verschiedenen Standorten werden zunächst gemeinsam mit den drei verschiedenen Zielgruppen entwickelt, um sie dann an ihre spezifischen Bedürfnisse und sozialen Kontexte anzupassen. Eine randomisierte, kontrollierte Studie wird anschließend die Wirksamkeit von Social Prescribing bewerten.
Eingeschlossen werden 1.776 Personen in acht EU-Ländern. Eine qualitative Analyse in fünf europäischen Ländern soll ferner die förderlichen und limitierenden Faktoren für die Umsetzung von SP aus der Perspektive verschiedener Interessengruppen untersuchen.
In Großbritannien ist SP mit mehr als 3.500 Link Workers bereits Teil der Gesundheitsversorgung, in Deutschland ist es dagegen nicht etabliert. Im vergangenen Jahr startete jedoch ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Modellprojekt unter Charité-Leitung, an dem mittlerweile neun hausärztliche Praxen in Berlin und Brandenburg beteiligt sind.
„Wir treffen immer wieder auf Menschen, für die eine soziale Diagnose zutrifft“, sagte gestern Benjamin Senst, Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin am MVZ Zerbaum in Brandenburg an der Havel, dem Deutschen Ärzteblatt.
Die Menschen kämen mit körperlichen Beschwerden in die Praxis, die Ursachen seien aber häufig mit Wohnungsproblemen, finanziellen Sorgen, Schwierigkeiten bei der Arbeit, in der Beziehung oder mit Alkoholmissbrauch verbunden, so Senst. In diesen Fällen könnten sie an eine Link Workerin überwiesen werden.
Natalie Viaux, eine der beiden Link Workerinnen des DFG-Modellprojektes, vermittelt die Betroffenen dann gezielt an Beratungsstellen, an soziale Hilfsangebote, Vereine oder Selbsthilfegruppen. „Die Resonanz ist bisher sehr positiv“, sagte sie dem Deutschen Ärzteblatt. Es gebe sehr viele Hilfsangebote in Deutschland, aber die meisten seien oft nicht bekannt oder die Menschen würden allein den Zugang nicht finden.
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