Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt überraschend massiv

Berlin – Die deutsche Pflegeversicherung sieht sich nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einem überraschenden Anstieg der Zahl neuer Pflegebedürftiger konfrontiert. In den vergangenen Jahren habe sich diese „geradezu explosionsartig“ erhöht, sagte er den den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
Es gebe ein „akutes Problem“, dessen Ursache noch nicht klar sei. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wäre für 2023 lediglich mit einem Zuwachs von rund 50.000 Menschen bei der Pflegeversicherung zu rechnen gewesen, sagte Lauterbach. Tatsächlich betrage das Plus aber mehr als 360.000 Menschen.
„Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben. Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau“, fügte er an. Nachholeffekte bei der Einstufung von Betroffenen nach der Coronapandemie sind nach Angaben des Gesundheitsministers eine „Hypothese“ zur Erklärung des überraschenden Anstiegs, die nun geprüft werden.
Nach Auffassung des Ministers reiche das zur Erklärung der Größenordnung allerdings nicht aus, betonte Lauterbach. Er gehe von einem „Sandwicheffekt“ aus, weil die Generation der sogenannten Babyboomer und ihre Eltern gleichzeitig pflegebedürftig würden.
„Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind“, sagte Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk. Dies liege seiner Einschätzung nach an Fortschritten in der Medizin. Es gebe eine Reihe von Erkrankungen oder Verletzungen, mit denen Menschen früher nicht lange überlebt hätten. Dadurch steige auch die Zahl jüngerer Pflegebedürftiger.
Für das System der Pflegeversicherung werde es „jedenfalls nicht einfach“, ergänzte der Minister mit Blick auf die finanziellen Folgen. Es sei klar, „dass wir mittel- und längerfristig eine solidere Form der Finanzierung der Pflege benötigen“. In der laufenden Legislaturperiode sei eine umfassende Finanzreform seiner Meinung aber „wahrscheinlich“ nicht mehr zu schaffen.
„Dafür liegen die Ansichten zu weit auseinander. Im Übrigen würde dafür auch die verbleibende Zeit nicht reichen“, sagte er. In Deutschland finden imnächsten Jahr Bundestagswahlen statt, womit die Legislaturperiode endet.
Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) gab es in der sozialen Pflegeversicherung zum Stichtag 31.12.2023 (5,2 Millionen Pflegebedürftige und für die private Pflegepflichtversicherung zum rund 312.000 vor. „Insgesamt dürften sich für 2023 daraus rund 5,6 Millionen Pflegebedürftige ergeben“, so das Ministerium.
In Deutschland soll die Pflegeversicherung Menschen für den Fall der Pflegebedürftigkeit absichern. Sie ist Teil der Sozialversicherung. Wergesetzlich krankenversichert ist, gehört deshalb automatisch auch der Pflegeversicherung an. Dafür bezahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einen Beitrag.
Kassen warnten jüngst vor Beitragssteigerungen wegen Defiziten. Der allgemeine Beitragssatz in der Pflegeversicherung beträgt derzeit 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens, der Arbeitgeber übernimmt davon die Hälfte. Kinderlose Versicherte zahlen zudem noch einen Zuschlag von 0,6 Prozent.
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission unter Leitung des Gesundheitsministeriums soll bis Ende Mai Empfehlungen zur dauerhaften Finanzierung der Pflegeversicherung vorlegen.
„Wir sind im Zeitplan und werden auf Arbeitsebene bis Ende Mai fertig“, sagte Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk. Mit einer „einheitlichen Empfehlung“ rechne er aber nicht. „Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitionspartner zu unterschiedlich“, fügte er an.
Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen betonte, wichtiger als persönliche Einschätzungen oder Momentaufnahmen seien die Ergebnisse der Arbeitsgruppe, die sich unter der Leitung des Gesundheitsministeriums mit der Finanzierung von Pflege beschäftigt habe.
„Diese Ergebnisse müssen zeitnah vorgelegt und besprochen werden, damit eine solide Grundlage besteht, um das weitere Vorgehen zu planen“, sagte sie. Ziel bleibe es, dass Pflege gerecht und verlässlich finanziert werde, und das so schnell wie möglich. „Dafür ist es unter anderem erforderlich, dass Leistungen, die nicht Aufgabe der Pflegeversicherung sind, aus Steuermitteln finanziert werden. Dazu gehören die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige“, so Klein-Schmeink.
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