Hohe Krankenstände sind keine Folge der telefonischen Krankschreibung

Berlin – Die Krankenstände in Deutschland bewegen sich derzeit auf historischen Höchstständen – an einem Missbrauch telefonischer Krankschreibungen liegt dies aber nicht. Das betonte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, heute bei der Vorstellung des Fehlzeitenreports 2024 des AOK-Bundesverbandes und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte Mitte September dafür plädiert, die telefonische Krankschreibung abzuschaffen. Er sah eine Korrelation zwischen den hohen Krankenständen und der Einführung der Maßnahme.
„Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigen“, so Reimann. Es gebe eine Vielzahl an Gründen für den hohen Krankenstand der vergangenen Monate und Jahre. „Aber die telefonische Krankschreibung gehört nach allem, was wir wissen, nicht dazu“, sagte Reimann.
Die Krankschreibung per Telefon könne im Gegenteil eine Möglichkeit sein, die Arztpraxen gerade bei Infektionswellen zu entlasten und zu einer Verringerung von Kontakten mit erkrankten Menschen beizutragen.
Dies bestätigte Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin Betriebliche Gesundheitsförderung des WIdO und Mitherausgeberin des Fehlzeitenreports. In einer Analyse hatte sie mit ihrem Team überprüft, wie sich der Krankenstand von 2020 und 2021 im Fünfjahresvergleich verändert hatte.
Nach Einführung der telefonischen Krankschreibung während der Coronapandemie war es demnach nicht zu mehr Fehlzeiten gekommen. „Deshalb sehen wir aktuell keine Unterstützung für das Argument, dass die telefonische Krankschreibung abgeschafft werden sollte“, so Baumgardt.
Dem Fehlzeitenreport der AOK zufolge ist der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätigen AOK-Versicherten aus dem vergangenen Jahr bereits im August erreicht worden. „Die Erkältungswellen im Herbst und Winter liegen noch vor uns“, betonte Baumgardt. „Es ist deshalb plausibel, anzunehmen, dass wir sogar höhere Fehlzeiten in diesem Jahr haben werden“. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 kamen auf 100 Versicherte knapp 160 Krankheitsfälle pro Jahr.
Wesentlicher Treiber dieser Entwicklung seien nach wie vor Atemwegserkrankungen, hieß es. Auch psychische Erkrankungen trügen dazu bei, da sie besonders lange Krankschreibungen verursachten. Weil Arbeitnehmer bei solchen Erkrankungen in der Regel deutlich länger krankgeschrieben sind als etwa bei einer Erkältung, hat sich die Zahl der Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen zwischen 2014 und 2024 um fast die Hälfte erhöht.
Dass diese Erkrankungen zugenommen haben, könne an Belastungen durch globale Krisen und Verdichtung in der Arbeitswelt sowie einer ständigen Erreichbarkeit von Beschäftigten liegen. Besonders betroffen von psychischen Erkrankungen waren dem Report zufolge Beschäftigte im Bildungsbereich, im Gesundheits- und Sozialwesen und in anderen kontaktintensiven Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung.
Ein anderer möglicher Grund für den hohen Krankenstand kann den AOK-Experten zufolge auch die Einführung der elektronischen Krankmeldungen sein. Sie könnten dazu beitragen, dass die Bescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit häufiger als zuvor erfasst werden. Vermutlich hatten zuvor nicht alle Versicherten ihre Krankmeldungen bei der Kasse eingereicht.
Dem Fehlzeitenbericht zufolge gab mehr als die Hälfte der Pflegekräfte an, schon einmal über einen Wechsel des Arbeitsplatzes nachgedacht zu haben, für 13 Prozent war dieses Thema akut. Rund 40 Prozent der Befragten könnten sich demnach vorstellen, den Beruf zu wechseln, acht Prozent haben dies vor.
„Bei diesen Zahlen verwundert es nicht, dass die Wechselbereitschaft unter Pflegekräften hoch ist“, sagte Antje Ducki, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Berliner Hochschule für Technik und Mitherausgeberin des Fehlzeitenreports. Grund dafür sei unter anderem der Fachkräftemangel und die dadurch steigende Arbeitsbelastung.
„Für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser stellt sich daher nicht nur die Frage, wie qualifiziertes Personal erfolgreich angeworben kann, sondern auch, wie und wodurch eine Abwanderung vermieden werden kann und bestehendes Personal in der Einrichtung gehalten werden kann“, so Ducki.
Neben der Gesundheit der Mitarbeitenden sei insbesondere die emotionale Bindung zum Unternehmen zu fördern. Dazu gehörten eine gute Kommunikation und Information, Partizipationsangebote, gegenseitige Wertschätzung und wertschätzende Führungskräfte, aber auch Teamzusammenhalt, ein faires Verhalten, wenig Konflikte und ein gutes Organisationsklima, betonte die Psychologin.
Für den Fehlzeitenreport wurden die Daten von 15,1 Millionen AOK-Versicherten ausgewertet.
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