Pandemie führte zu Anstieg bei Internet- und Gamingsucht

Berlin – Rund zwei bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an einer Internet- oder Computerspielsucht. Das erklärte der Psychologe und Suchtforscher Hans-Jürgen Rumpf kürzlich beim Tag der digitalen Gesundheit. Bei weiteren zehn Prozent treten erste auffällige Zeichen einer entsprechende Störung auf. Diese Gruppe sei gefährdet in eine Sucht abzurutschen, so Rumpf.
Dabei hat sich die Prävalenz insbesondere bei jungen Menschen in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Laut der Bundeszentrale für gesundheitlichen Aufklärung (BZgA) stieg bei den 18- bis 24-Jährigen der Anteil der Männer mit einer internet- und computerspielbezogenen Störung von zwei Prozent im Jahr 2011 auf 3,2 Prozent im Jahr 2019. Bei den gleichaltrigen Frauen stieg der Anteil von 2,1 Prozent auf 5,1 Prozent im Jahr 2019.
Deutlich höhere Abhängigkeitszahlen gibt es bei der jüngeren Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen. Der Anteil der männlichen Teenager stieg 2011 von drei Prozent auf 6,7 Prozent im Jahr 2019 und der Anteil der jungen Mädchen stieg von 3,3 Prozent auf 8,6 Prozent.
Zahlen zur Nutzung digitaler Spiele und sozialer Medien (SM) liefert seit 2019 auch eine längsschnittliche Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) mit einer reprsäentativen Stichprobe von mehr als 1.000 10- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Diese Studie wird über die DAK-Gesundheit finanziert in Kooperation mit der forsa (Sucht; DOI: 10.1024/0939-5911/a000694).
Vor der Pandemie (September 2019) lag die Prävalenz riskanter und pathologischer Gaming-/SM-Nutzung nach ICD-11-Kriterien demnach bei zehn Prozent der Jugendlichen, 2,74 Prozent erfüllten die Kriterien für pathologisches Gaming. 8,2 Prozent wurden als riskante und 3,15 Prozent als pathologische SM-Nutzer klassifiziert.
Gaming und Social-Media-Sucht nehmen weiter zu
Unter dem ersten Lockdown im Jahr 2020 nahmen die Häufigkeit und die Dauer der Nutzung von Games und sozialen Medien deutlich zu. Die Gamingzeit verlängerte sich an Wochentagen von etwa 80 auf 144 Minuten und an Wochenendtagen von 151 auf 193 Minuten. Mit SM beschäftigten sich die Teilnehmenden während des Lockdowns ebenfalls häufiger: an Schultagen 115 versus 191 Minuten und an schulfreien Tagen 183 versus 239 Minuten.
Inzwischen erfolgte eine deskriptive Ergebnisbeschreibung auf der DAK-Webseite für das Jahr 2021: Demnach ist die Zahl pathologischen Gamings weiter gestiegen auf 4,1 Prozent aller 10- bis 17-Jährigen. „Der Anstieg der Abhängigkeit bei Computerspielen von mehr als 50 Prozent ist alarmierend“, sagte Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Weiter angestiegen ist auch die krankhafte SM-Sucht: Hier wuchs der Anteil der pathologischen Nutzung seit 2019 von 3,15 auf 4,6 Prozent.
Derzeit bereite das Team den Bericht zu den Daten von 2022 vor, die am 14. März 2023 auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt werden sollen, sagte Kerstin Paschke, kinder- und jugendpsychiatrische Oberärztin und wissenschaftliche Arbeitsgruppenleiterin für medienbezogene Störungen (MBS) am DZSKJ dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) auf Nachfrage.
„Eine MBS wird bei Kindern und Jugendlichen häufig nicht oder erst spät erkannt mit signifikanten Beeinträchtigungen der persönlichen, sozialen und akademischen Entwicklung sowie großen Belastungen für die gesamte Familie. Oft finden sich behandlungsbedürftige psychiatrischen Komorbiditäten, etwa ein Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Ängste oder Depression“, erläuterte Paschke.
Rumpf befürchtet zudem, dass etwa durch neue Produkte, auch gestützt durch Künstliche Intelligenz, Betroffene künftig deutlich schneller in die Sucht abrutschen könnten.
Das Problem könne fast jeden treffen, denn: Heute seien mehr als fünf Milliarden Menschen im Internet unterwegs, erklärte auch der Wissenschaftsjournalist und Physiker Ranga Yogeshwar beim Tag der digitalen Gesundheit. Insgesamt gibt es mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde.
In kürzester Zeit sei unser Planet mit dem Internet vernetzt worden, so Yogeshwar. Das bedeute aber auch, dass der Alltag immer stärker von Digitalisierung geprägt sei und Menschen weltweit im Durchschnitt knapp sieben Stunden am Tag online wären.
In manchen Ländern, beispielsweise Südafrika, liege diese Zahl bei mehr als zehn Stunden täglich. Dies sei ein Indiz für eine Internetsucht, so Yogeshwar. Schwierig sei auch, dass Alltagsaktivitäten durch das Handy immer wieder unterbrochen werden. „Das hat Konsequenzen auf die Frage, wie lange wir uns konzentrieren können“, sagte Yogeshwar.
Die Mechanismen hinter diesem Verhalten sei mit Phänomenen wie sozialer Belohnung oder auch FOMO („Fear of Missing Out“) zu erklären, sagte der Psychologe und Social-Media Experte Christian Montag. „Die Geschäftsidee der Techindustrie ist, möglichst viel über die Person zu erfahren und mit diesen Informationen in der Werbeindustrie aufzutrumpfen“, erklärte er.
Konditionierung erfolgt über soziale Interaktionen
Voraussetzung für dieses Datengeschäft sei, dass die Onlineplattformen maximal fesselnd sind. Dass die Timeline in den sozialen Medien etwa kein Ende habe sei deshalb explizit so konstruiert. „Die Tech-Industrie will uns in möglichst jeder freien Minute auf den Plattformen halten“, so Montag.
Like-Buttons oder ähnliche Funktionen funktionierten zudem als soziale Belohnung, das treibe die Menschen immer wieder auf die Plattformen. „Diesen Mechanismus kennen wir aus dem Glücksspielbereich“, so Montag.
Die Menschen konditionierten sich mit dem Online-Verahalten quasi selbst. Empfehlenswert sei deshalb, etwa Pushbenachrichtigungen auszuschalten und eher mit einer analogen Uhr zu arbeiten, als ständig für die Uhrzeit auf das Smartphone zu schauen und abgelenkt zu werden. Zudem könne man Graufilter über Apps wie Instagram oder Tiktok legen, damit der Inhalt für das Auge uninteressanter wirke.
Montag plädierte deshalb für eine Änderung der Regeln für Online-Plattformen. „Wir müssen weg vom Datengeschäftsmodell“, betonte er. Stattdessen bräuchte es eine andere Art der Finanzierung von sozialen Netzwerken.
Auch Yogeshwar sprach sich für eine verstärkte Analyse der Situation sowie entsprechende Gesetze aus, die das Internet und seine Nutzung besser regeln. „Die ersten Autos fuhren Ende des 19. Jahrhunderts komplett gesetzlos, erste Ampeln gab es erst in den 1920 er Jahren und erste Fußgängerüberwege in den 1950er-Jahren“, sagte Yogeshwar.
Deshalb brauche es auch für das Internet dringend Regeln und Gesetze, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Zunehmend kämen Kinder und Jugendliche mit Inhalten in Kontakt, etwa Pornographie, die nicht für sie gedacht sind.
Kostenloses Online-Screening und Coaching
„Da es weltweit einen Mangel an etablierten Therapieprogrammen von MBS gibt, bieten digitale Interventionen grundsätzlich eine gute Chance im Rahmen der Aufklärung oder der Therapie zu unterstützen und Therapiewartezeiten zu überbrücken“, ist Paschke überzeugt. Für Kinder und Jugendliche benötige es, neben der Adressierung der Betroffenen, eine Einbindung der Eltern.
Zusammen mit Rainer Thomasius, dem ärztlichen Leiter des DZSKJ am UKE entwickelt die Arbeitsgruppe derzeit eine App (Res@t) für Adoleszente (10 bis 19 Jahre) und deren Eltern, die gemeinsam mit einem großen Konsortium aus kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätskliniken, Versorgungskliniken und Praxen evaluiert werden wird.
Helfen herauszufinden, ob jemand problematisches, privates Nutzungsverhalten an den Tag legt, soll zudem die App smart@net. Mithilfe eines anonymen Screenings wird online ein zwanzigminütiger Fragebogen beantwortet, etwa wie häufig man unbeabsichtigt das Smartphone nutzt, obwohl man eigentlich nur die Uhrzeit nachsehen wollte. Daraufhin erhalten die Nutzer ein persönliches Feedback zur Internetnutzung.
Nach dem Screening gebe es ein Ampelergebnis, entweder Grün, Gelb oder Rot, erklärte Rumpf. Ein gelbes Ergebnis bedeutet erste Auffälligkeiten, problematisches Verhalten wird mit rot gekennzeichnet. Betroffene erhalten nach dem Screening ein vierwöchiges Online-Coaching über die App, in dem etwa nach Gründen gefragt wird, warum das Internet genutzt wird sowie nach den Beweggründen, dieses Verhalten zu ändern.
Wer weitere Hilfe benötigt, erhalte eine Telefonberatung und/oder eine Online-Therapie, erklärte Rumpf. Aber auch wer ein grünes Ergebnis erhält, kann etwa einen Präventionsteil mit Informationen zur Internetnutzung nutzen.
Für die Versicherten entstünden hier keine Kosten. Um den Nutzen der App auch wissenschaftlich zu belegen, werde gemeinsam mit den Betriebskrankenkassen (BKK) die Studie „Scavis“ durchgeführt, so Rumpf. Bisher wurden bereits gut 2.500 App-Nutzer gescreent. Weitere Teilnehmende wollen die Forschenden noch bis März/April gewinnen.
Eine erste Zwischenauswertung präsentierte Rumpf kürzlich bei einer Online-Fachtagung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen (LVG & AFS): „Die Mehrheit, etwa 80 %, hat gesagt, dass sie im Rahmen der Pandemie mehr online waren“, erklärte Rumpf.
Das sei zunächst kein Grund für eine negative Bewertung. „Aber wir haben auch festgestellt, dass je mehr Personen online aktiv waren und eine problematische Onlinenutzung aufwiesen, desto geringer war ihre Lebenszufriedenheit.“ Dieser Zusammenhang sei auch aus anderen Studien bekannt, so Rumpf.
Finale Ergebnisse der Skavis-Studie zur problematischen Internetnutzung und internetbezogenen Störungen wollen die Forschenden der Universität zu Lübeck im März 2024 präsentieren. Skavis und Res@t werden vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert.
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