Unzureichende Versorgung von chronischen Schmerzpatienten beklagt

Mannheim – Schmerzmediziner haben eine schlechte Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen beklagt. Hierzulande fehle häufig eine „vernetzte und abgestufte interdisziplinäre Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen“, bekräftigten die Deutsche Schmerzgesellschaft und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses in Mannheim.
Betroffene warteten oft Jahre auf eine Diagnose und erhielten dann auch meist nur eine unzureichende Therapie, da der Schmerz als zentrales Symptom vernachlässigt werde, hieß es. Chronischer Schmerz sollte als eigenes Krankheitsbild gesehen werden, das eine gezielte und interdisziplinäre Behandlung erfordere.
Aus dem kürzlich veröffentlichten „Weißbuch Schmerzmedizin 2024“ des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland (BVSD) geht hervor, dass Patientinnen und Patienten mit einer chronischen Schmerzkrankheit je nach Region zwei bis fünf Jahre warten, bis die Erkrankung erkannt und adäquat behandelt wird.
„Der Umgang mit Schmerzen ist nach wie vor unzureichend. Es gibt eine deutliche Kluft zwischen der hohen Relevanz des Themas und dem mangelnden gesundheitspolitischen Interesse – trotz steigender Betroffenenzahlen und enormer gesundheitlicher Kosten“, sagte Ko-Kongresspräsident Joachim Erlenwein, stellvertretender Leiter der Schmerzmedizin an der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Göttingen.
Erst allmählich Umdenken zu interdisziplinärer Sichtweise
Chronische Rücken- und Kopfschmerzen würden oft isoliert vom jeweiligen Fachbereich aus therapiert, hieß es. Erst allmählich finde ein Umdenken hin zur interdisziplinären Sichtweise auf Schmerzerkrankungen statt. Schmerzen seien multifaktoriell, sagte Erlenwein. Anatomische, psychologische und soziale Aspekte spielten eine Rolle.
Dagny Holle-Lee, Ko-Kongresspräsidentin und Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums am Universitätsklinikum Essen, betonte, das Patienten häufig nur monomodale Therapien erhielten, die auf ein Erkrankungssymptom abzielten. „Das kann zu einer Verschlimmerung der Schmerzen und deren Chronifizierung führen.“
Chronische Schmerzen seien aber komplexe Krankheitsbilder, die sich in der Regel nicht auf die Schnelle mit einer OP, einem Gips oder einer Pille lösen oder gar heilen ließen. Bei der Therapie sollten deshalb beispielsweise speziellen ärztliche Schmerztherapeutinnen und -therapeuten, Physiotherapie und Psychologie mit einbezogen werden.
DiGA als Chance
Die Fachfrau betonte das Potenzial digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA). „Durch algorithmengestützte Programme können Patienten ihre Schmerzsymptome dokumentieren, ihren Krankheitsverlauf überwachen und gezielte Übungen zur Schmerzbewältigung durchführen.“
Dies entlaste nicht nur Ärzte und Therapeuten, sondern stärke auch die Selbstwirksamkeit der Patienten, da sie aktiv in den Behandlungsprozess einbezogen würden. „Angesichts der wachsenden Zahl an Patienten und des gleichzeitigen Fachkräftemangels, insbesondere im Bereich der Schmerz- und psychischen Erkrankungen, müssen wir die Chancen, die digitale Gesundheitsanwendungen bieten, gezielt nutzen.“
Erlenwein wies darauf hin, dass Stand 2022 etwa 1.400 Ärzte über die Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie (QSV) an der ambulanten Versorgung von Schmerzpatienten teilnahmen. Rechnerisch würde – vorausgesetzt hochgesetzter Fallzahlen – nur circa einer halben Million Menschen in Deutschland eine schmerzmedizinische spezialisierte ärztliche Versorgung ermöglicht. „Das Versorgungsdefizit wird deutlich, bedenkt man, dass von bis zu sechs Millionen Behandlungsbedürftiger ausgegangen wird.“
Frank Petzke, designierter Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, brachte erneut die Sorge zum Ausdruck, dass die Schmerzmedizin unter der geplanten Klinikreform leiden könnte. Ohne die Einführung einer eigenen Leistungsgruppe würden „Fälle der Schmerzmedizin voraussichtlich über eine Vielzahl unterschiedlicher und inhaltlich unpassender Leistungsgruppen streuen“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme von Schmerzgesellschaft und anderen.
Einrichtungen, die sich auf die Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen spezialisiert haben, werden für diese fachfremden Leistungsgruppen vermutlich weder die Mindestvoraussetzungen erfüllen noch die Mindestvorhaltezahlen erreichen, hieß es. „Bei diesem Szenario ist zum Überleben der Krankenhausreform die Schmerzmedizin auf die Einführung einer oder mehrerer spezifischer Leistungsgruppen angewiesen.“
Versorgungsunterschiede je nach Region
Erlenwein verwies auf eine Untersuchung, die auf dem Kongress vorgestellt wurde und an der er selbst beteiligt ist. Demnach gibt es bundesweit relevante Unterschiede in der Erreichbarkeit von Einrichtungen zur speziellen Schmerzbehandlung.
Zum Teil sei dafür aber gar nicht entscheidend, ob ein Patient oder eine Patientin in der Stadt oder auf dem Land wohne, sondern wie viele Behandlungskapazitäten das jeweilige Bundesland vorhalte. Insgesamt war aber das Angebot in urbanen Bereichen meist besser. „Gerade in ländlichen Bereichen waren Verbindungen im Öffentlichen Personenverkehr ÖPV oft kritisch, nicht realistisch, oder nicht vorhanden.“
„Mit Blick auf die Behandlung eines chronischen Krankheitsbildes mit langfristiger therapeutischer Zielsetzung, mit der Notwendigkeit abgestufter Versorgung – längerfristig ambulant, intermittierend (teil-) stationär, – offenbaren die Ergebnisse aus Patientenperspektive eine teils kritische Versorgung“, sagte Erlenwein.
Er betonte, dass die Versorgungssituation insbesondere bei Schmerztageskliniken je nach Bundesland weit auseinander liege. Ein im Vergleich regional breit verteiltes tagesklinisches Angebot gebe es nur in Bayern, Rheinland-Pfalz und Sachsen sowie in Hamburg und Berlin auf, teils auch Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. „Für die Mehrheit ist somit eine tagesklinische Schmerzbehandlung, insbesondere bei täglicher Anreise, kein realistisch erreichbares Behandlungsangebot.“
Die vollstationäre interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST), die im Vergleich zur teilstationären im letzten Jahrzehnt eine enorme Verbreitung erfahren hat, sei in den meisten Fällen die einzige realistisch erreichbare Option.
„Zu „gesunden“ Patienten bleiben damit oft nur monomodale und beim chronischen Schmerz meist als nicht wirksam eingestufte ambulante und nicht verzahnte Therapieangebote“, sagte Erlenwein. Das könne zu dem Paradoxon führen, dass sich bei Patienten und Patientinnen erst die Situation verschlechtern müsse, bevor sie adäquat versorgt würden. „Hilfreich ist das in einem verhaltensmedizinisch ausgerichteten Behandlungsansatz nicht.“
Viele Betroffene berichten von Stigmatisierung
Heike Norda, Vorsitzende des Betroffenenvereins UVSD SchmerzLOS, berichtete von einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Menschen, die mit einer neurologischen und/oder einer Schmerzerkrankung leben (vor allem Fibromyalgie, chronische Schmerzen und Migräne).
Insgesamt seien mehr als 1.200 Antworten eingegangen, sagte Norda. Rund 91 Prozent der Befragten gaben demnach an, aufgrund ihrer Erkrankung stigmatisiert zu werden. Als Hauptursache dafür nannten die Befragten mangelndes Verständnis und Wissen über die Krankheit sowie deren Unsichtbarkeit.
Über 80 Prozent gaben laut Norda an, dass ihnen schon einmal ein Arzt oder eine andere medizinische Fachkraft das Ausmaß oder die Schwere ihrer Symptome nicht geglaubt habe und der Patient oder die Patientin deswegen keine angemessene Behandlung erhalten hatte.
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