Zu häufiger Einsatz von Antibiotika bei Atemwegsinfektionen

Berlin – Nach einem Tiefststand im Jahr 2022 wurden bei Erkältungen im vergangenen Jahr wieder mehr Antibiotika verschrieben. Laut einer Datenauswertung der Techniker Krankenkasse (TK) bekamen 2023 etwa 15 Prozent der Erwerbspersonen, die wegen einer Erkältung krankgeschrieben waren, ein entsprechendes Rezept.
Allerdings werden die allermeisten Erkältungskrankheiten durch Viren (zum Beispiel SARS-CoV-2, Influenzaviren, Adenoviren, RSV) verursacht und seltener von Bakterien (zum Beispiel Pneumokokken, Gruppe A. Streptokokken, Legionellen, Bordetella pertussis, Mycoplasma pneumonia, Chlamydia pneumoniae).
Antibiotika können bei viralen Infekten weder die Beschwerden – wie Schnupfen und Halsweh – lindern, noch die Krankheitsdauer verkürzen. Sie führen aber oft zu verschiedenen Nebenwirkungen.
Es gebe große Unterschiede bei der Verordnung von Antibiotika, sowohl was die Menge angehe, als auch die Auswahl, heißt es auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). Das führe zu Konflikten zwischen Verordnenden wie auch mit Patienten und erschwere die rationale Antibiotikatherapie.
„Ob die erhöhten Vorschreibungen tatsächlich nur ein Sicherheitsbedürfnis der Ärzte reflektieren oder teilweise mit einem erhöhten, wieder auftreten bakterieller Erreger nach der Pandemie erklärt werden können, ist eine Überlegung wert“, findet Mathias Pletz, Direktor am Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Jena.
Es gebe weltweit Daten, dass nach dem Ende der Pandemiemaßnahmen verschiedene bakterielle Infektionen mit einem Reboundeffekt zurückgekehrt seien, erklärte er seine Vermutung. Dies sei zumindest für Pneumokokken, Gruppe A. Streptokokken und Mycoplasmen belegt.
Bakterielle Erkrankungen und virale Infektion unterscheiden
„Auch wenn die überwiegende Mehrzahl der Patienten, die sich mit Erkältungssymptomen beim Arzt vorstellt, eine leichte, virale Infektion hat, so kann dies doch bei dem einen oder anderen Patienten eine beginnende bakterielle Pneumonie oder eine Gruppe A-Streptokokokken (GAS)-Tonsillitis sein, die eine bakterielle Behandlung erfordert“, erklärte der Alt-Präsident der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Infektionstherapie (PEG) Pletz dem Deutschen Ärzteblatt. Klinisch seien beginnende bakterielle Erkrankungen und virale Infektion jedoch sehr schwer auseinander zu halten.
Für die Tonsillitis liegt eine S3-Leitlinie vor, die klinische Scoringsysteme beinhaltet, um Gruppe A β-hämolysierende Streptokokken (GABHS) als Verursacher zu erkennen (Centor-, McIssac- oder Fever-Pain-Score). Treten Fieber (> 38°C), Fehlen von Husten, geschwollene vordere Halslymphknoten und Tonsillenexsudat alle vier in Kombination auf, ist das Risiko hoch. Ein Alter unter 15 Jahren wird ebenfalls mit einem Risikopunkt bedacht.
Die vom britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfohlene Antibiotikaverordnung seien mit dem Risiko der Übertherapie behaftet, heißt es in der Leitlinie der deutschen Fachgesellschaften.
Deswegen weiche die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) auch von NICE ab. Ein Scoring soll demnach erst erfolgen, wenn eine Antibiotikagabe erwogen wird, sonst sei bei bis zu zwei erfüllten Scoringpunkten nur symptomatisch zu therapieren, ab drei Punkten könne ein „delayed prescribing“ (verzögerte Verschreibung) angeboten werden.
Diese verzögerte Verschreibung biete die Möglichkeit, den Antibiotikaverbrauch zu reduzieren, ohne den Patienten zu gefährden, sagte Pletz. Hier wird dem Patienten ein Rezept für ein Antibiotikum mitgegeben, dass dieser aber nur einlösen soll, wenn es in den nächsten Tagen nicht deutlich besser wird.
Eine verzögerte Verschreibung hat auch die DGPI in ihre dieses Jahr aktualisierten Empfehlungen für die antibiotische Therapie in der pädiatrischen Praxis neu aufgenommen. Das Hauptziel: Antibiotika reduzieren.
Etablierte Handlungsempfehlungen wie bei der Tonsillitis fehlen hingegen bei anderen Indikationen: „Für die Abgrenzung einer beginnenden bakteriellen Pneumonie von einer viralen Bronchitis gibt es bislang keine Scoringsysteme, die sich durchgesetzt haben“, sagte Pletz.
Dabei könne die beginnende bakterielle Pneumonie im Verlauf zu einer Krankenhauseinweisung führen und hätte eine nicht zu vernachlässigende Letalität, warnte der Infektiologe und Pneumologe. „Daher entscheiden manche Ärzte sich dann aus Sicherheitsgründen eher für ein Antibiotikum.“ Mittlerweile wisse man aber, dass auch eine nicht indiziert Antibiotikatherapie beim Patienten Schaden verursachen kann (u.a. Allergien, Unverträglichkeiten, Clostridium diffizile Colitis).
Jede Zehnte Antibiotikagabe mit Nebenwirkungen
Ein Expertinnen- und Expertenteam der Cochrane Collaboration analysierte mehrere Studien zu Antibiotikaverordnungen bei einfachen Erkältungen (DOI: 10.1002/14651858.CD000247.pub3).
Das zentrale Ergebnis: Unabhängig davon, ob die Erkrankten Antibiotika nahmen oder nicht, hielten die Erkältungsbeschwerden ähnlich lange an. Zudem traten bei etwa einer von zehn Personen, die Antibiotika nahmen, Nebenwirkungen auf – etwa Magen-Darm-Beschwerden oder Hautausschläge.
Eine Antibiotikaverordnung sollte also erst dann erwogen werden, wenn durch eine Folgeinfektion mit Bakterien Komplikationen auftreten, zumal jeder Antibiotika-Einsatz Resistenzen fördert, schlussfolgern die Studienautoren.
Kein routinemäßiger Rachenabstrich zum bakteriologischen Erregernachweis bei Halsschmerzen
Für eine sichere Diagnose von Atemwegsinfektionen stehen zudem diverse diagnostische Tests zur Verfügung.
Bei niedrigem Risiko für das Vorliegen einer GABHS-Infektion empfiehlt die S3-Leitlinie, unabhängig vom Alter, auf einen Streptokokken-Schnelltest zu verzichten.
Nur bei Kindern und Jugendlichen mit mindestens mittlerem Risiko für eine GABHS-Infektion würde ein negativer Streptokokken-Schnelltest den Verzicht auf eine Antibiotikaverordnung begründen. Ein routinemäßiger Rachenabstrich zum bakteriologischen Erregernachweis und zur Resistenzbestimmung soll bei akuten Halsschmerzen nicht erfolgen.
Die Nutzung des Streptokokken-A-Schnelltests sei mit zunehmendem Bekanntheitsgrad des McIssac-Scores und der der Empfehlungen der DGPI zur antibiotischen Therapie sicherlich zurückgegangen, vermutet Tanja Brunnert, Bundessprecherin des Berufsverbandes für Kinder- und Jungendärzte und -ärztinnen (BVKJ).
In den Praxen werde auch das C-reaktive Protein (CRP) unter Verwendung von Kapillarblut qualitativ und semiquantitativ bestimmt. Zudem seien PCR-basierte Tests zum Beispiel für Influenza, COVID und RSV im Einsatz, so die Kinder- und Jugendärztin aus Göttingen.
„In einigen Praxen kommen Point-of-Care (POC) Diagnostiksysteme zum Einsatz, die aber in der Anschaffung sehr teuer sind“, ergänzte sie. Die POC-Diagnostik zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei jedoch absolut unterfinanziert, sagte Brunnert dem DÄ.
„Die Anschaffung teurer Laborgeräte lohnt sich nur, wenn in den Praxen ein ausreichende hohes Privatklientel betreut wird oder aber die Diagnostik als IGeL abgerechnet wird. Dies ist insbesondere im Hinblick auf Antibiotic Stewardchip unbefriedigend, da weiterhin mindestens 30 Prozent der Antibiotikaverordnungen bei Infekten der oberen Luftwege nicht indiziert sind.“
Eine bessere Finanzierung würde sicherlich zu einem sinnvollen Einsatz von POC Diagnostik und damit verbundener Reduktion der Antibiotikaverschreibung beitragen, ist die Kinderärztin aus Göttingen überzeugt.
Für das C-reaktive Protein (CRP) gilt: Es steigt bei viralen Infektionen in der Regel nicht so stark an, wie bei bakteriellen Infektionen. „Allerdings ist CRP kein spezifischer Marker für eine bakterielle Infektion, sondern nur ein genereller Entzündungsparameter“, gibt Uwe Groß vom Institut für Medizinische Mikrobiologie und Virologie, Universitätsmedizin Göttingen, zu Bedenken.
Der CRP-Schnelltest könne oft, aber nicht immer, einen Hinweis auf eine bakterielle Genese geben, so das Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Ärzte für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. Auch die S3-Leitlinie bezieht eine klare Position im Hinblick auf Laboruntersuchungen (CRP, BSG, PCT, ASL). Sie würden keine Sicherheit hinsichtlich der Beurteilung einer GABHS-Infektion verschaffen.
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