Politik

Debatte um Bürgerversicherung neu entbrannt

  • Montag, 27. November 2017
/kamasigns, stock.adobe.com
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Berlin – Im Ringen um eine neue Bundesregierung ist nach dem Aus der Jamaika-Koalition eine neue Debatte um die Bürgerversicherung entflammt. SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach nannte die Bürgerversicherung ein „zentrales Anliegen“. Zwar sollte die SPD „vorab keine Bedingungen stellen“, sagte er der Passauer Neuen Presse.

Die SPD wolle aber „eine Bürgerversicherung mit einem gemeinsamen Versicherungsmarkt ohne Zwei-Klassen-Medizin“. Die Bürgerversicherung wäre nicht das Ende der Privaten Krankenversicherung, betonte Lauterbach. „Sie würde von allen Anbietern der Privaten ebenfalls angeboten werden können.“ Wenn die Union der SPD bei Verhandlungen nicht entgegen komme, dann werde es Neuwahlen geben. Die engste CDU-Spitze befürwortet zwar einhellig Gespräche mit der SPD über die Bildung einer großen Koalition. Unionspolitiker warnen aber, anstehende Gespräche nicht mit überzogenen Forderungen zu belasten.

Größere Dringlichkeit als bisher

Die Grünen im Bundestag forderten die Union auf, sich „einen Ruck“ zu geben und „endlich den Weg für die Bürgerversicherung“ frei zu machen. „Die könnte ja auch von den privaten Krankenversicherungen angeboten werden. Ein Risikoausgleich würde dafür sorgen, dass es nicht zu einer Risikoselektion kommt“, sagte Maria Klein-Schmeink (Grüne). Sie betonte, das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung führe zu enormen Fehlanreizen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte heute, dass es in der Sozial- und Gesundheitspolitik Themen mit „größerer Dringlichkeit“ als vor vier Jahren gebe. Sie nannte das „Auseinanderfallen der Lebenswirklichkeit“, das viele Menschen befürchteten, die Wohnungsnot in Ballungsräumen sowie die Angst in dünn besiedelten Regionen, vom öffentlichen Personennahverkehr, der medizinischen Versorgung und Schulen abgeschnitten zu sein. Darauf werde eine neue Regierung in den nächsten vier Jahren Antworten geben müssen. Auf die Bürgerversicherung ging Merkel nicht ein.

Ärzte erteilen Bürgerversicherung klare Absage

Eine klare Absage an eine Bürgerversicherung kam von Kassenärztlicher Bundes­vereinigung (KBV), Bundesärztekammer (BÄK) und Ärzteverbänden. Der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen betonte, die aufgekommene Diskussionen gehe am Kern der Probleme vorbei. „Eine Bürgerversicherung würde kein einziges der potenziellen Probleme lösen, vor allem nicht die Herausforderungen einer älter werdenden Bevölkerung“, sagte er. Gassen hält aber Modifizierungen in der GKV für notwendig. „Die fortdauernde Budgetierung stellt eine Bedrohung für die Sicher­stellung der wohnortnahen ambulanten Versorgung der Patienten dar“, sagte er.

BÄK-Präsident Frank Ulrich Montgomery erklärte, wer die Bürgerversicherung wolle, starte den Turbolader in die Zwei-Klassen-Medizin. „Wir wollen keine Rationierung, keine Wartezeiten und keine Begrenzungen der Leistungskataloge wie in den Einheits­systemen der Niederlanden oder in Großbritannien“, erklärte er. Diejenigen, die es sich leisten könnten, sicherten sich dort einen exklusiven Zugang zur Spitzenmedizin als Selbstzahler oder durch teure Zusatzversicherungen. „Das hindert die SPD jedoch nicht daran, die Bürgerversicherung zur Voraussetzung von Sondierungsgesprächen zu machen und damit unser leistungsstarkes System aus den Angeln zu hebeln. Was uns aber als gerechtere Alternative zum dualen Krankenversicherungssystem angeboten wird, ist in Wirklichkeit der direkte Weg in die Zwei-Klassen-Medizin“, warnte Montgomery.

Hinzu kommt aus Sicht der BÄK, dass die Private Krankenversicherung die rasche Übernahme des medizinischen Fortschritts für alle Patienten ermöglicht. Denn die Existenz der PKV führe mit einem hohen Leistungsversprechen dazu, dass auch das GKV-System versuche, einen hohen Versorgungsstandard trotz aller Sparbemühungen aufrechtzuerhalten. „So fördert die private Krankenversicherung Innovationen bei Diagnostik und Therapie, genehmigt sie schnell und setzt damit die Krankenkassen in der Regel unter Zugzwang“, sagte Montgomery.

Nicht zuletzt würden aus Sicht des Bundesärztekammerpräsidenten der medizinischen Versorgung Mittel in Milliardenhöhe entzogen. Das treffe nicht nur Ärzte, Physio­therapeuten oder Hebammen, sondern auch und gerade Patienten. „Privatversicherte ermöglichen mit ihrem die tatsächlichen Kosten deckenden Finanzierungsbeitrag eine hochwertige medizinische Ausstattung von Krankenhäusern und Praxen, die allen Patienten unabhängig von ihrem Versicherungsstatus zur Verfügung steht“, führte Montgomery aus.

Kritik von Ärzteverbänden

Der NAV-Virchow-Bund, Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, warnte ebenfalls davor, der SPD mit der Einführung einer „Bürgerversicherung“ ein Zuge­ständnis für Verhandlungen zu einer Großen Koalition zu machen. Die Bürger­versicherung wäre „die Abrissbirne an einem bewährten System, das die Bevölkerung und internationale Organisationen wie die OECD für das beste der Welt halten“, sagte der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dirk Heinrich. Die freie Arztwahl, der niedrigschwellige Zugang zu wohnortnahen Haus- und Fachärzten und die europaweit kürzesten Wartezeiten wären schnell beendet.

Als „populistischen Reflex“ hat der Vorsitzende des Hartmannbundes, Klaus Reinhardt, die vom linken Flügel der SPD als ultimative Bedingung für eine große Koalition wiederbelebte Diskussion um die Bürgerversicherung kritisiert. „Dass man sich zunächst jeglicher Verantwortung fürs Regieren verweigert und nun ausgerechnet ein ideologiebeladenes Prestigeobjekt der Parteilinken zur wichtigsten Bedingung für eine mögliche Koalition erhebt, ist ein alarmierendes Signal für die künftige Politik einer möglichen Schwarz-Roten Regierung“, sagte er.

Der Deutsche Hausärzteverband (DHÄV) warnte davor, der hausärztlichen Versorgung die notwendigen Mittel zu entziehen. Der DHÄV-Bundesvorsitzende Ulrich Weigeldt sprach von einem „Brandbeschleuniger“ für bestehende Probleme. „Wir brauchen in Zukunft ein Gesundheitssystem, das sicherstellt, dass die Mittel dorthin fließen, wo der größte gesellschaftliche Bedarf herrscht. Das ist aktuell ganz klar die hausärztliche Versorgung“, sagte er.

PKV warnt vor Arbeitsplatzverlusten

Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) wehrt sich angesichts einer möglichen Neuauflage der großen Koalition ebenfalls vehement gegen eine Bürgerversicherung. „Deutschland hat wirklich wichtigere Probleme als eine willkürliche Radikalreform an unserem gut funktionierenden Gesundheitswesen. Zu Recht warnen heute zahlreiche Ärzteverbände, mit den SPD-Plänen würde die Gesundheitsversorgung für alle Bürger schlechter“, sagte der Vorsitzender des PKV-Verbandes, Uwe Laue.

Er argumentierte weiter, SPD-Chef Martin Schulz habe mit Blick auf Siemens die Streichung tausender qualifizierter Jobs als „volkswirtschaftlich irrsinnig und verantwortungslos“ kritisiert. „Wirklich verantwortungslos wäre es, aus parteipolitischen Motiven 68.000 qualifizierte Arbeitsplätze in der PKV zu bedrohen“, sagte er.

dpa/kna/may

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