Ärzteschaft

Abschaffung der Neupatientenregelung führt weiter zu Kritik der Vertragsärzte

  • Freitag, 21. Oktober 2022
/joyfotoliakid, stock.adobe.com
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Berlin – Der Bundestag hat gestern die Neupatientenregelung zum 1. Januar abgeschafft. Zugleich hat das Parlament Zuschläge für eine schnelle Terminvermittlung beschlossen. Die Vertragsärzte sind weiterhin nicht glücklich damit.

„Die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen, die aktuell mit immensen Kostensteigerungen zu kämpfen ha­ben, sind frustriert und maßlos enttäuscht von diesem Beschluss“, sagte der Vorstandsvorsitzender der Kas­sen­ärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. Er gehe davon aus, dass es in den nächsten Wochen zu weiteren Protesten kommen werde. Das Zugeständnis der Ampelkoalition bezeichnete er bestenfalls als „Tropfen auf den heißen Stein“.

Die Ab­schaffung der Neupatientenregelung in Kombination mit der Beschränkung der Finanzierung der offe­nen Sprechstunde im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes sorge dafür, dass sich die Lage der ohnehin chronisch unterfinanzierten ambulanten Versorgung weiter verschlechtern werde. Zugleich sende sie das Signal, „dass Praxen zwar der Lastesel der Versorgung sind, aber im Gegensatz zu Krankenhäusern keine angemessene finanzielle Ausstattung bekommen.“

Nach der neuen gesetzlichen Regelung sollen Ärzte für Patienten, die über die Terminservice­stellen (TSS) vermittelt werden, abhängig von der Schnelligkeit der Vermittlung Zuschläge von 100, 80 beziehungsweise 40 Prozent zur Versicherten- und Grundpauschale erhalten.

Fachärzte können diese Zuschläge auch abrech­nen, wenn sie Patienten auf Vermittlung eines Hausarztes kurzfristig behandeln. Hausärzte erhalten für die Terminvermittlung statt zehn künftig 15 Euro. Im Akutfall beläuft sich der Zuschlag ab Januar auf 200 Prozent. In diesem Fall muss die TSS den Termin ver­mitteln und die Behandlung spätestens am nächsten Tag erfolgen.

„Die Zuschläge gleichen die neue Finanzierungslücke, die mit dem Wegfall der Neupatienten­regelung ent­steht, in keiner Weise aus“, kritisierte auch Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. Den Beschluss wertete er als „Ausdruck fehlender Wertschätzung für die Arbeit der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten“.

KBV-Vorstandsmitglied Thomas Kriedel bezweifelte nach diesem Votum, dass die Politik die ambulante Struk­tur als schützenswert erachte: „Dabei sind die über 100.000 Praxen das Rückgrat der Versorgung in unserem Land“, sagte er. Dieser Bundestagsbeschluss sorge jedoch dafür, die ambulante Struktur insgesamt weiter auszuhöhlen.

Auch die Finanzierung der offenen Sprechstunden wird zum 1. Januar geändert. Untersuchungen und Behand­lungen, die dort durchgeführt werden, müssen künftig weitgehend aus der gedeckelten morbiditätsbedingten Gesamtvergütung bezahlt werden. Ursprünglich sollten die Krankenkassen zusätzliche Finanzmittel bereit­stellen, damit Versicherte schneller einen Facharzt konsultieren können.

Die Ankündigung des Wegfalls der Neupatientenregelung hatte in der Ärzte- und Psychothera­peutenschaft eine Welle von Protesten ausgelöst. Innerhalb kürzester Zeit unterzeichneten mehr als 50.000 Ärzte und Psychotherapeuten einen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, in dem sie vor den drohenden Auswirkungen warnten. In vielen Regionen fanden und finden derzeit weiterhin Protestaktionen statt, Praxen blieben zeitweise geschlossen.

Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) wies Patienten darauf hin, dass es am 26. Oktober zu großflä­chigen Praxisschließungen in Hessen kommen wird. Dies gilt sowohl für Haus- wie auch für Facharztpraxen. Hintergrund sind bundesweite Protestaktionen der niedergelassenen Ärzte.

Die KVH rät Patienten, sich vorab in den Praxen zu informieren, ob diese an dem Protest teilnehmen, und erst nach vorherigem Kontakt die Praxen aufzusuchen. Im akuten Krankheitsfall stehen sonstige notfallversorgen­de Einrichtungen zur Verfügung.

„Der derzeitige Kurs der Politik und Krankenkassen ist an Geringschätzung für die ambulante Versorgung nicht zu überbieten“, sagten die KVH-Vorstandsvorsitzenden Frank Dastych und Eckhard Starke. Nicht nur, dass den Niedergelassenen durch die geplante Streichung der Neupatientenregelung deutschlandweit rund 400 Millionen Euro weggenommen werden solle, die Krankenkassen forderten darüber hinaus, den Praxen den gesetzlich zustehenden Inflationsausgleich in den kommenden Jahren zu verweigern.

Ähnliche Töne kommen aus Brandenburg. „Ausgerechnet der Bundesgesundheitsminister, der so viel Wert auf Empirie und Evidenz legt, verschließt vor objektiven Daten und Fakten zur Neupatientenregelung die Augen“, monierte Peter Noack, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB).

Aktuelle Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zeigten, dass mehr als jeder vierte gesetzlich versicherte Patient von der Regelung profitiert habe. Im vierten Quartal 2021 seien bundesweit 20 Millionen Neupatienten in den Praxen behandelt worden – ein Plus von zwölf Prozent im Vergleich zum vierten Quartal 2019.

„Das Vertrauen der Ärztinnen und Ärzte in die Politik wurde in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt. Der Wegfall der Neupatientenregelung ist die nächste große Enttäuschung“, sagte der Vorstand der KV Berlin. Der Neupatientenregelung sei keine Chance gegeben worden, sich langfristig – auch nach der besonderen pandemischen Situation – in den Praxen zu etablieren.

Der Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) hält die neuen Vergütungsregeln für die schnellere Terminvergabe für vollkommen unzureichend und nicht praktikabel. BVDD-Präsident Ralph von Kiedrowski warnte vor einem nächsten Schritt in Richtung einer weiteren Einschrän­kung der ärztlichen Freiberuflichkeit, wenn die Terminvergabe der Praxen in weiten Teilen in die Hände der Terminservicestellen gelegt wird.

Er sprach von einer „Mogelpackung“. Die möglichen Aufschläge auf die Grundpauschale bei einer Vermittlung durch die Terminservicestellen oder den Hausarzt bei einer schnelleren Versorgung sowie eine extra­budgetäre Vergütung der erbrachten Leistungen kompensierten in keiner Weise die Honorarverluste in den dermatologischen Praxen, die durch die Abschaffung der alten Neupatientenregelung entstehen.

Die BAG Selbsthilfe erinnerte die Ärzte heute hingegen an ihren Sicherstellungsauftrag für ambulante Be­handlungen. „Die Verweigerung von Behandlungen aus Gründen veränderter Vergütungen ist damit unverein­bar“, sagte Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG Selbsthilfe.

Als Dachverband der Selbsthilfeorganisationen chronisch kranker und behinderter Menschen forderte die BAG Selbsthilfe die Vertretung der Vertragsärzte auf, im politischen Streit nicht die Versorgung der Patienten zur Disposition zu stellen.

may/EB

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