Arzneimittelexperten kritisieren Hochpreispolitik der Pharmaindustrie

Berlin – Die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind im Jahr 2018 zwar relativ moderat um 3,2 Prozent auf gut 41 Milliarden Euro gestiegen. Mit 18,8 Milliarden Euro geht jedoch fast die Hälfte der Ausgaben auf das Konto patentgeschützter Arzneimittel, die nur 6,4 Prozent aller Arzneimittelpackungen ausmachen.
Das geht aus dem Arzneiverordnungsreport (AVR) 2019 hervor, den Mitglieder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) jedes Jahr herausgeben. „Unsere Verordnungsanalysen zeigen seit vielen Jahren, dass Patentarzneimittel die wesentlichen Kostentreiber sind“, sagte der Pharmakologe und Mitherausgeber des AVR, Ulrich Schwabe, heute in Berlin.
Dass der Ausgabenzuwachs nicht höher ausgefallen sei, liege daran, dass die gesetzlichen Einsparmaßnahmen insbesondere bei Generika Wirkung zeigten. Das größte Einsparvolumen hätten im vergangenen Jahr mit 8,2 Milliarden Euro die Festbeträge erzielt, gefolgt von den Rabattverträgen mit 4,5 Milliarden Euro.
Die Einsparungen, die im Zuge der Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen auf Basis der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel erzielt wurden, bezifferte Schwabe mit 2,65 Milliarden Euro.
Sieben Milliarden Euro für Onkologika
Umsatzstärkste Indikationsgruppe waren dem Pharmakologen zufolge im vergangenen Jahr die Onkologika mit sieben Milliarden Euro und einem überdurchschnittlichen Kostenanstieg von 8,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. An zweiter Stelle nannte Schwabe die Immunsuppressiva mit 4,9 Milliarden Euro und einem Plus gegenüber 2017 von gut elf Prozent.
Mit knapp elf Prozent wiesen die Antithrombotika ebenfalls hohe Steigerungsraten auf. Die Ausgaben beliefen sich 2018 auf 2,3 Milliarden Euro im Vergleich zu 284 Millionen Euro im Jahr 2011. Der Grund: Die traditionellen Vitamin-K-Antagonisten wurden durch die neuen direkten oralen Antikoagulanzien (NOAK) verdrängt. „Nach internationalen Leitlinien sind die NOAKS aber nur unter speziellen Bedingungen eine zu bevorzugende Therapieoption“, sagte Schwabe.
Der Pharmakologe warnte zudem vor den weiteren Entwicklungen. So kosteten die 30 nutzenbewerteten Arzneimittel des Jahres 2018 bis auf zwei Präparate mehr als 2.500 Euro im Jahr. Spitzenreiter sei Vestronidase alfa, ein Orphan-Arzneimittel zur Behandlung einer lysosomalen Speicherkrankheit, mit Jahrestherapiekosten von 1,1 Millionen Euro.
Während in diesem Fall nur wenige Patienten betroffen seien, stelle sich das Kostenproblem bei Aimovig völlig anders dar. Das neue Biologikum zur Migräneprophylaxe komme für die Behandlung von 2,4 Millionen Patienten infrage und verursache damit rechnerische Gesamtkosten von rund 30 Milliarden Euro zulasten der GKV.
Das Präparat sei jedoch nur gegen Placebo und nicht gegen die zweckmäßige Vergleichstherapie getestet worden, kritisierte Schwabe. Daher sei ein Zusatznutzen nur bei 14.500 Patienten belegt, die auf keines der verfügbaren Migräneprophylaktika ansprechen. Allerdings habe der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) keine Verordnungseinschränkung beschlossen. „Wir dürfen gespannt sein, wie dieses Kostenproblem von der GKV gelöst wird“, sagte Schwabe.
Wissen über Nutzen und Risiken bei vielen Präparaten gering
Auf eine weitere Fehlentwicklung im Arzneimittelmarkt wies der Präsident der AkdÄ, der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig, hin. Von den 37 Arzneimitteln, die 2018 neu in Deutschland zugelassen wurden, seien mehr als ein Drittel als Orphan-Präparate zur Behandlung seltener Krankheiten zugelassen worden, darunter sechs im Rahmen beschleunigter Zulassungsverfahren.
Vielfach sei bei diesen Präparaten das Wissen über Nutzen und Risiko gering. Es überrasche deshalb nicht, dass der G-BA bei mehr als der Hälfte der seit 2011 im Rahmen der frühen Nutzenbewertung beurteilten Orphan-Arzneimittel den Zusatznutzen als nicht quantifizierbar dargestellt habe.
Nach Ansicht der AVR-Autoren setzt das derzeitige Fördersystem für die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Erkrankungen falsche Anreize. Man müsse neben den geltenden Prävalenzkriterien sowie der Dauer der Marktexklusivität auch die genaue Definition von Begriffen wie „ungedeckter medizinischer Bedarf“ oder „signifikanter Nutzen“ überprüfen.
Gegebenenfalls müsse bei ökonomisch sehr erfolgreichen Orphan-Arzneimitteln die Rückzahlung der den Pharmaunternehmen gewährten ökonomischen Anreize erwogen werden. Denn zum Beispiel in der Onkologie würden mit einigen Wirkstoffen mehr als fünf Milliarden US-Dollar jährlich umgesetzt.
Einparpotenzial von Biosimilars wird besser genutzt
Positiv hob Ludwig hervor, dass Ärzte im vergangenen Jahr deutlich häufiger Biosimilars verordneten. So seien beispielsweise die durchschnittlichen Verordnungsanteile der biosimilaren TNF-alpha-Blocker Infliximab und Etanercept zur Behandlung chronisch-entzündlicher Krankheiten auf mehr als 50 Prozent angestiegen.
Besonders hervorzuheben sei auch die im Vergleich zu anderen Biosimilars schnelle Marktdurchdringung der Biosimilars zu Adalimumab, dem in den vergangenen Jahren umsatzstärksten Arzneimittel weltweit. Biosimilars zu Adalimumab hätten in den ersten Monaten ihrer Markteinführung 2018 bereits einen Verordnungsanteil von durchschnittlich 18,8 Prozent erreicht.
„Durch die Verordnung preisgünstigerer Biosimilars konnten Einsparungen in Höhe von 227 Millionen Euro erreicht werden“, sagte Ludwig. „Bei konsequenter Verordnung des günstigsten Biosimilars anstelle des Originals wären allerdings zusätzliche Einsparungen in Höhe von 538 Millionen Euro möglich gewesen – und das ohne die Qualität und Sicherheit der medikamentösen Therapie zu gefährden.“
Solidargemeinschaft vor Überforderung schützen
Angesichts der Preisentwicklung im Markt patentgeschützter Präparate erklärte Sabine Richard vom AOK-Bundesverband, die Pharmaunternehen testeten die Zahlungsbereitschaft der Krankenkassen für neue Arzneimittel immer weiter aus. „Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, wie die Solidargemeinschaft dauerhaft vor einer Überforderung geschützt werden kann“, sagte die Geschäftsführerin der Geschäftsführungseinheit Versorgung.
Erfolgsabhängige Vergütungsmodelle, bei denen die Unternehmen Abschläge für die Patienten in Aussicht stellten, bei denen eine Behandlung nicht den versprochenen Erfolg bringe, erteilte sie eine Absage. Diese Modelle seien keine „Systemlösung“. Denn sie änderten letztlich nichts an den immer höheren Mondpreisen, die von der Solidargemeinschaft erst einmal vorfinanziert werden müssten.
Für eine kurzfristige Kostenkontrolle habe der Gesetzgeber mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung schon die richtige Richtung eingeschlagen. Darin werde der G-BA ermächtigt, die Verordnung von Arzneimitteln mit noch unzureichender Evidenz auf Ärzte und Krankenhäuser zu beschränkten, die an einer begleitenden Datenerhebung teilnehmen.
Vor dem Hintergrund überhöhter Einstiegspreise in den deutschen Markt, bleibe die AOK bei ihrer Forderung nach einer Rückwirkung des verhandelten Erstattungsbetrags ab dem ersten Tag des Marktzugangs. Noch könnten die Unternehmen in den ersten zwölf Monaten ihre Preise selbst festlegen. Außerdem müsse sich auch auf europäischer Ebene die Zusammenarbeit zwischen den Kostenträgern verbessern, um mehr Transparenz über tatsächlich gezahlte Arzneimittelpreise zu erhalten.
Industrie sieht keine Auffälligkeiten
Auffälligkeiten bei der Kostenentwicklung kann der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) dagegen nicht erkennen. In den vergangenen zehn Jahren habe die Ausgabensteigerung bei Arzneimitteln jährlich im Mittel bei 3,1 Prozent gelegen und damit im Vergleich zu den anderen Leistungsbereichen wie ambulante Versorgung oder Krankenhaus am niedrigsten.
Zu dieser insgesamt moderaten Entwicklung hätten insbesondere die Preisverhandlungen bei neuen Arzneimitteln beigetragen, die den Krankenkassen Einsparungen von 2,6 Milliarden Euro beschert hätten.
Auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie erklärte, von ausufernden Arzneimittelausgaben könne keine Rede sein. „Wenn wir in Deutschland eine Versorgung auf Topniveau haben wollen, sollten wir moderat ansteigende Arzneimittelkosten endlich als das begreifen, was sie sind: Eine wünschenswerte Investition in Gesundheit und Lebensqualität von Millionen Patienten“, hieß es dort.
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