Arzneimittelgesetz: Rund eine halbe Milliarde Euro soll Engpässe lindern

Berlin – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will die Versorgungslage bei Arzneimitteln verbessern, indem er Deutschland als Absatzmarkt für die Pharmaindustrie attraktiver macht. Das geht aus dem Entwurf eines „Gesetzes zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (ALBVVG) hervor, auf den sich das Bundeskabinett heute geeinigt hat. Die Industrie selbst reagiert wenig begeistert.
Seit mittlerweile zehn Jahren sei die Problematik zunehmender Lieferengpässe bekannt, klagte Lauterbach heute in Berlin, nur ausreichend angegangen worden sei sie bisher nicht. Das wolle er mit dem ALBVV in mehreren Schritten tun und sei sehr optimistisch, mit den nun vorgestellten Maßnahmen – wenn sie denn wie geplant verabschiedet werden können – großen Erfolg zu erzielen.
Der erste Schritt seien dabei Arzneimittel mit altersgerechten Darreichungsformen für Kinder. „Kinder zuerst“, sei schließlich eine Devise, die sich durch seine ganze Amtszeit zieht, betonte Lauterbach. „Da sind wir großzügig.“
Akute Abhilfe schaffen soll deshalb, Kinderarzneimittel aus den Rabattvertrags- und Festbetragssystemen zu nehmen. Bei der Bildung von Festbetragsgruppen sollen sie künftig unberücksichtigt bleiben; die Hersteller wiederum sollen den Abgabepreis dann einmalig auf das anderthalbfache des bisherigen Festpreises anheben können.
Mehr Geld sollen auch neue Reserveantibiotika kosten: Bei ihnen würden die Regeln zur Preisbildung so angepasst, dass der finanzielle Anreiz für Forschung und Entwicklung in dem Bereich für pharmazeutische Unternehmen erhöht wird.
Den Unternehmen soll für anerkannte Reserveantibiotika mit neuen Wirkstoffen ermöglicht werden, den von ihnen bei Markteinführung gewählten Abgabepreis auch über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus beizubehalten.
„Die Verhandlung zur Höhe des Erstattungsbetrags entfällt, bei Mengenausweitungen zum Beispiel durch Indikationserweiterungen sind Preis-Mengen-Vereinbarungen vorgesehen“, heißt es dazu in der Kabinettsvorlage des Gesetzentwurfs, die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.
Weitere Maßnahmen im Antibiotikabereich sollen sich aus der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie 2030 (DART 2030) ergeben, die nun vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, erklärte Lauterbach.
Leichter zur Zuzahlungsbfreiung
Außerdem soll die Zuzahlungsfreistellungsgrenze gesenkt werden. Die soll ein Anreiz für Patientinnen und Patienten sein, sich für ein günstigeres Medikament zu entscheiden: Liegt der Preis eines Präparats nämlich 30 Prozent unter dem Festbetrag, entfällt für sie die Zuzahlung.
Diese Schwelle soll nun auf 20 Prozent gesenkt und so der Preisdruck auf die Hersteller gedämpft werden. „Damit wird es auf einen Schlag für die Firmen interessanter, für den deutschen Markt zu produzieren“, erklärte Lauterbach zu den beiden Neuerungen.
Die Unternehmen sehen das allerdings anders. „Die vorgeschlagenen kleinteiligen Modifikationen im Preisregulierungssystem können hier voraussichtlich keinen wesentlichen und nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgungssicherheit leisten und sollten in ein Gesamtkonzept der Lieferengpassbekämpfung und -vorsorge eingepasst werden“, schreibt der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa).
Der Branchenverband Pro Generika kritisiert die Konzentration auf Kinderarzneimittel und Antibiotika angesichts von rund 400 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) registrierten Lieferengpässen. „Bei allen anderen Medikamenten bleiben die Problemursachen bestehen und die Versorgungslage, wie sie ist: wenig stabil und teilweise sogar prekär“, kritisierte Geschäftsführer Bork Bretthauer.
Das wies Lauterbach heute explizit zurück. „Solche Kritik höre ich immer wieder. Es stimmt aber einfach nicht, dass nur eine kleine Gruppe der Wirkstoffe, die knapp waren, hier betroffen wäre“, erklärte er.
Tatsächlich sieht das Gesetz im ersten Schritt nur Änderungen bei Kinderarzneimitteln und Antibiotika vor, enthält aber auch die Neuregelung, nach der Preisinstrumente für versorgungskritische Arzneimittel im Fall einer Marktverengung gelockert werden können. Falls es zu wenige Anbieter gibt, sollen Festbetrag oder Preismoratorium für ein Präparat dann einmalig um 50 Prozent angehoben werden können.
Wann und in welchem Umfang dieses Instrument eingesetzt werden wird, ist noch nicht abzusehen. Lauterbach will hier aber die Diagnose- und Prognosefähigkeit des Systems stärken: So soll das BfArM zusätzliche Informationsrechte unter anderem gegenüber Herstellern und Krankenhausapotheken erhalten.
Außerdem solle ein Frühwarnsystem zur Erkennung von drohenden Lieferengpässen eingerichtet werden. Die Preiserhöhungen könnten demnach schon bei der akuten Gefahr von Engpässen ausgeweitet werden.
Pro Generika verweist genau wie der Bundesverband der Arzneimittelhersteller darauf, dass höhere Preise für die Firmen zwar eine schöne Sache sind – eine tatsächlich notwendige Erhöhung jedoch zu kurz komme: „Besonders enttäuschend ist, dass der dringend notwendige Inflationsausgleich für preisregulierte Arzneimittel nur unzureichend vorkommt“, erklärte BAH-Hauptgeschäftsführer Hubertus Cranz.
Kosten noch nicht absehbar
Wie viel genau diese Maßnahmen die Beitragszahler kosten werden, weiß Lauterbach nach eigenen Angaben selbst nicht. „Die Kosten können wir im Moment noch nicht abschätzen, das muss ich einräumen“, erklärte er heute. Er gehe aber von einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag aus.
Diejenigen, die diese Gelder verwalten, zeigen sich ebenso wenig von Lauterbachs Ansatz überzeugt, Marktverengungen mit höheren Preisen zu bekämpfen. „Wir sind skeptisch, ob dieses Ziel mit den vorgesehenen Maßnahmen erreicht werden kann, denn die Bundesregierung setzt hierfür alles auf eine Karte: mehr Geld für die Pharmaindustrie“, sagte Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstandsmitglied des GKV-Spitzenverbandes. „Aber mehr Geld schafft nicht zwangsläufig mehr Liefersicherheit.“
Vielmehr hätten Liefer- und Versorgungsprobleme bei Arzneimitteln vielfältige, meist globale Ursachen. „Hier wird es keine Lösung sein, einseitig die Versichertengemeinschaft in Deutschland zu belasten oder Arzneimittel aus europäischen Nachbarländern abzuziehen“, kritisierte Stoff-Ahnis.
Lauterbach will aber nicht nur Geld in die Hand nehmen lassen, sondern auch mit strukturellen Vorgaben die Versorgungssicherheit erhöhen. So soll bei Rabattvertragsausschreibungen für Antibiotika künftig die Anbietervielfalt erhöht und ein europäischer Produktionsanteil berücksichtigt werden.
Bei der Vergabe soll deshalb wenigstens ein Los das Kriterium beinhalten, dass mindestens die Hälfte der Produktion des ausgeschriebenen Wirkstoffs in Europa angesiedelt ist. „Damit beginnen wir bei Antibiotika und überlegen, das auf Onkologika auszuweiten“, kündigte Lauterbach an. Es handele sich um ein lernendes System. „Davon erwarte ich mit bei Antibiotika, wo wir besonders viele Engpässe haben, einen großen Sprung.“
So soll für rabattierte Arzneimittel künftig eine verbindliche dreimonatige Lagerfrist vorgeschrieben sein, um kurzfristige Lieferengpässe oder spontan gestiegener Mehrbedarf abfedern zu können.
Verschärfte Regeln kommen auch auf Krankenhausapotheken und krankenhausversorgende Apotheken zu: Hier sollen die Bevorratungsverpflichtungen für parenteral anzuwendende Arzneimittel und für Antibiotika zur intensivmedizinischen Versorgung auf sechs Wochen erhöht werden.
Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), sieht einen Widerspruch zu den sonstigen Zielen: Es sei „besonders ärgerlich“, kritisierte sie, dass der eigentlich positive Ansatz des Gesetzentwurfs, für Rabattvertragsarzneimittel eine verstärkte Lagerhaltung einzuführen, ausgerechnet bei Kinderarzneimitteln nicht gelten soll. Denn die werden ja laut Entwurf aus dem Rabattvertragssystem genommen.
Frust bei der Apothekerschaft
Vereinfachungen wiederum soll es für Apothekerinnen und Apotheker geben: Die Austauschregeln werden laut Entwurf gelockert. Ist ein Arzneimittel nicht verfügbar, dürfen Apotheker dann ein wirkstoffgleiches abgeben, „sofern der verordnende Arzt dies nicht ausgeschlossen hat und die Person, für die das Arzneimittel bestimmt ist, einverstanden ist“, heißt es im Gesetzentwurf.
Solange die verordnete Gesamtmenge des Wirkstoffs nicht überschritten wird, dürfen Apotheker dann ohne Rücksprache mit dem verordnenden Arzt bei der Packungsgröße, der Packungszahl und der Abgabe von Teilmengen einer Packung von der ärztlichen Verordnung abweichen.
Wenn keine pharmazeutischen Bedenken bestehen, dürfen sie dann sogar bei der Wirkstärke von der ärztlichen Verordnung abweichen. Außerdem erhalten sie pro Austausch mit ärztlicher Rücksprache einen Zuschlag von 50 Cent.
Glücklich ist der Berufsstand mit den neuen Regeln dennoch nicht. „Als Engpassausgleich für den Personal- und Zeitaufwand brauchen wir keinen zweistelligen Centbetrag, sondern einen zweistelligen Eurobetrag“, erklärte Mathias Arnold, Vizepräsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) heute in Berlin. Auch benötige es noch mehr als die nun gewährten Freiheiten beim Austausch.
Und über noch einen weiteren Punkt im neuen Gesetzentwurf erregt sich die verfasste Apothekerschaft: Der Pflichttext bei Arzneimittelwerbung soll nämlich geändert werden. Die Formulierung: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ sei nämlich seit Jahren wegen der Verwendung des generischen Maskulinums Gegenstand von Diskussionen.
Die Apothekerschaft fühlt sich durch die neue Formulierung jedoch gegenüber ihren ärztlichen Kolleginnen und Kollegen geringgeschätzt. Denn während die nun in beiden Geschlechtern genannt werden, soll bei ihnen aus sprachlichen Gründen künftig nur noch die Institution vorkommen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihre Ärztin, Ihren Arzt oder in Ihrer Apotheke.“
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