Körperliche und verbale Übergriffe in Praxen sind keine Seltenheit

Berlin – Knapp 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten sowie ihrer Praxisteams haben im vergangenen Jahr verbale Gewalt erlebt. Das zeigt eine Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die heute vorgelegt und auf der Vertreterversammlung (VV) diskutiert wurde. Die zeigt auch: Körperliche Gewalt ist keine Seltenheit mehr.
Teilgenommen hatten an der Online-Umfrage rund 7.580 Ärzte (46 Prozent), Psychotherapeuten (neun Prozent), Medizinische Fachangestellte (MFA, 41 Prozent) und auch andere Gesundheitsberufe (vier Prozent).
Verbale Gewalt von Patienten ist der Umfrage zufolge ein „sehr großes“ (31 Prozent) und „eher großes“ Problem (47 Prozent). 85 Prozent gaben an, dass die verbale Gewalt in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat.
80 Prozent haben im vergangenen Jahr selbst Erfahrungen mit verbalen Übergriffen gemacht. Dazu zählen Beschimpfungen, Bedrohungen mit Worten und Beleidigungen. Lediglich 14 Prozent haben deshalb die Polizei eingeschaltet oder Anzeige erstattet.
Körperliche Gewalt in den Praxen von Ärzten und Psychotherapeuten kommt offenbar vor. Aber deutlich seltener als verbale Gewalt. Drei Prozent antworteten, körperliche Gewalt käme „sehr oft“ vor, 20 Prozent sagen, es sei „oft“ der Fall. 36 Prozent gaben dies mit „selten“ und 29 Prozent mit „sehr selten“ an. Fast jeder zweite (48 Prozent) sagen aber, dass die körperliche Gewalt in den vergangenen Jahren zugenommen hat.
Persönliche Erfahrungen mit körperlichen Übergriffen haben nach eigenen Angaben 59 Prozent der Befragten gemacht. Nach der Häufigkeit gefragt, sagten 73 Prozent es sei ein- bis fünfmal, acht Prozent sechs- bis zehnmal und der Rest mehr als zehnmal vorgekommen. Die Polizei wurde aber auch bei körperlichen Angriffen eher selten – in 25 Prozent der Fälle – eingeschaltet oder Anzeige erstattet. 74 Prozent schalteten diese nicht ein.
Der Umfrage zufolge hat ein Drittel der Praxen aufgrund der zugenommenen Gewalt Vorkehrungen getroffen – zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele Praxen in einem gestiegenen Anspruchsdenken. Häufig geht es demnach dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die eingefordert werden. Gleichzeitig sind den Angaben der Praxen zufolge viele Patienten frustriert, was sich oft in Beleidigungen und Beschimpfungen äußert. Als eine Ursache dafür wird die verfehlte Gesundheitspolitik genannt.
Die zunehmenden Angriffe bleiben nicht folgenlos: Zahlreiche Ärzte und Praxismitarbeitende berichten, dass ihnen der Beruf deshalb keinen Spaß mehr mache und es noch schwieriger werde, gutes Personal zu halten oder zu gewinnen.
„Die Verrohung der Sitten ist erschreckend“, sagte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, zur Umfrage. „Ein gesamtgesellschaftlicher Werteverfall trifft auf ein überlastetes und kaputt gespartes Gesundheitssystem. Außerdem wecken Politik und Krankenkassen zu hohe Ansprüche nach dem Motto ‚Geht zum Arzt, da bekommt ihr alles und das sofort‘“, so der KBV-Chef.
„Insgesamt ist der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden. Die Praxen als Spiegelbild unserer Gesellschaft bilden da keine Ausnahme“, erklärte Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. Bei einer Milliarde Patientenkontakten, die jährlich im ambulanten Bereich zu verzeichnen seien, verhielten sich die meisten immer noch friedlich. Nichtsdestotrotz sei die Entwicklung besorgniserregend.
„Die enorme Resonanz bei der Umfrage unterstreicht die hohe Betroffenheit der Praxen“, sagte KBV-Vorstandsmitglied Sibylle Steiner. Die Niedergelassenen müssten der konsequenten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Vollzugsorgane vertrauen können.
Gassen, Hofmeister und Steiner betonten heute erneut, dass sie die Pläne von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zur Strafverschärfung bei Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und in Notaufnahmen unterstützen. Allerdings seien auch die Praxen „ein wichtiger sozialer Faktor und Teil des Gemeinwohls. Sie bedürfen daher auch eines besonderen Schutzes“, stellten sie klar.
Zuletzt hatten sich Gassen und Buschmann im Bundesjustizministerium getroffen. Am Ende war eine weitere wissenschaftliche Umfrage vereinbart worden, die die Grundlage für Gespräche Buschmanns mit den Länderkollegen sein soll. Möglicherweise liegen die Ergebnisse daraus nicht mehr für das laufende Gesetzgebungsverfahren vor, räumte Gassen heute ein.
Die Reform hatte kürzlich ohne Veränderungen das Bundeskabinett passiert. Nun muss sich zeigen, ob eine Änderung noch im parlamentarischen Verfahren erfolgt und die Niedergelassenen explizit im Gesetz erwähnt werden.
Die KBV argumentiert, dass die geplante Gesetzesänderung nur einen besseren Schutz für den ärztlichen Notdienst oder die Notaufnahme gewährleistet, die bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten. „Für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und deren Praxisteams ergibt sich aus den geplanten Gesetzesänderung kein größerer Schutz“, so die KBV.
Hintergrund für den Vorstoß aus dem Bundesjustizministerium sind zunehmende Angriffe auf Rettungskräfte, den Notdienst oder in Notaufnahmen. Es geht aber auch um einen besseren Schutz für Vollstreckungsbeamte und Menschen, die dem Gemeinwohl dienen.
Die Delegierten positionierten sich heute mit einer Resolution zum Thema und stellten sich hinter die Strafrechtsverschärfungspläne. Man sei „tief besorgt über die zunehmenden Berichte von Gewaltakten gegenüber Ärztinnen, Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie dem Praxispersonal und Bereitschaftsdienstpraxen“.
Mit der Resolution wird an die zuständigen Behörden appelliert, sicherzustellen, dass betroffene Ärzte und Psychotherapeuten sowie das Praxispersonal nach einem Gewaltvorfall „umfassende Unterstützung erhalten“. Dies umfasse psychologische Betreuung, rechtliche Beratung und den notwendigen Schutz vor weiteren Übergriffen.
Man biete dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Zusammenarbeit an, „um sicherzustellen, dass spezifische Bedürfnisse des medizinischen Personals berücksichtigt werden und Maßnahmen in der Praxis wirksam umgesetzt werden“ könnten.
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