Politik

Chaos um Schutzmasken: Händler fordern Millionen vom Gesundheits­ministerium

  • Freitag, 14. August 2020
Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Annahme einer Lieferung von 100 Millionen Schutzmasken. /picture alliance, Britta Pedersen
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Annahme einer Lieferung von 100 Millionen Schutzmasken. /picture alliance, Britta Pedersen

Berlin – Im Chaos um die Beschaffung von Schutzmasken steht das Bundesgesundheits­ministerium (BMG) von Jens Spahn (CDU) demnächt wohl vor Gericht. Nach Angaben des Landgerichts Bonn, wo die Behörde offiziell ihren Hauptsitz hat, liegen derzeit 48 Klagen von Maskenlieferanten vor. Sie fordern vom BMG nicht geleistete Zahlungen für ihre Ware ein.

Das BMG selbst spricht von bislang 23 laufenden Verfahren „mit Forderungen in einem Volumen von 68 Millio­nen Euro“. Laut Landgericht gehen seit Ende Juli vermehrt Klagen ein. „Eine Schätzung der Kosten für die rechtlichen Auseinandersetzungen ist zum jetzigen Verfahrensstand nicht sinnvoll möglich“, kommentiert das BMG auf Anfrage.

Darüber hinaus muss sich die Behörde vor dem Bundeskartellamt dafür verantworten, die Organisation und Abwicklung des Verfahrens an einen externen Dienstleister vergeben zu haben, ohne den Auftrag offiziell auszuschreiben. Ein unbeteiligter Vergaberechtler hatte deshalb eine Verfahrensrüge eingereicht.

Die zuständige Vergabekammer des Bundes will bis September eine Entscheidung treffen. Hier lässt sich das BMG ausgerechnet durch eine Kanzlei vertreten, die ebenfalls in die Beschaffung der Masken eingebunden war.

Die Opposition bezeichnet diese Wahl als „kaum hilfreich“ und fordert mehr Transparenz bei der Aufarbeitung des gesamten Prozesses. Das Verfahren, welches das BMG für die Beschaffung gewählt habe, scheine sich rückblickend als „ungeeignet herauszustellen“, sagt Karsten Klein, der für die FDP im Haushaltsausschuss auch über die Finanzen des BMG Bericht erstattet.

Kritik an Jens Spahns später Reaktion

Wie ist dieses Chaos entstanden? Als sich die Brisanz der Pandemie spätestens im Febru­ar abzuzeichnen begann, kauften die Deutschen massenweise Schutzmasken. Bei Ärzten und Krankenhäusern kam es zu einem bedrohlichen Mangel. Deutsche Hersteller von Schutzausrüstung berichteten später, schon Anfang Februar, vor dieser Situation gewarnt zu haben. Über Wochen sei das BMG darauf nicht eingegangen.

Tatsächlich ist das BMG unter normalen Umständen nicht für die Beschaffung von Schutz­ausrüstung zuständig. Kritiker werfen Spahn dennoch vor, zu spät auf die sich an­bahnende Krise reagiert zu haben. Zu lange habe er sich auf dem Argument ausgeruht, die Schutzwirkung von Masken sei nicht erwiesen – in der Hoffnung es würde Verbrau­cher von Großkäufen abhalten.

Erst Ende Februar kam die Kehrtwende. Das Verteidigungsministerium entsandte seine Einkaufsbehörde, das sogenannte Beschaffungsamt, um die nun dringend benötigte Schutzausrüstung zu organisieren.

Sechs Millionen Masken verschwanden spurlos

Gemeinsam mit der dem Finanzministerium unterstellten Generalzolldirektion versuchte man, sich auf dem Weltmarkt zu diesem Zeitpunkt schon hart umkämpfte Masken zu si­chern. Bekannt wurde über diese Zusammenarbeit vor allem, dass eine Lieferung von sechs Millionen bestellten Schutzmasken an einem Flughafen in Kenia spurlos ver­schwand.

Die Bemühungen reichten offenbar nicht aus. Das BMG, das kein unterstelltes Beschaffungsamt hat, wurde nach eigenen Angaben am 9. März selbst tätig. Die Beamten setzten deutsche Industrieriesen wie BASF, Bayer, Daimler, Otto und Volkswagen auf den chinesischen Markt an, wo diese im Auftrag der Behörde einkauften.

Die Deutsche Bahn, Lufthansa und die Firma Fiege kümmerten sich um die Logistik. Um kurzfristig viele Händler zu erreichen, erarbeitete das BMG ein sogenanntes Open-House-Verfahren. Dabei ließen sie sich von der Berliner Anwaltskanzlei Müller-Wrede & Partner beraten, die dafür 42.000 Euro erhielt.

Bei einem Open-House-Verfahren wird einseitig, in diesem Fall vom BMG, gegenüber einer unbestimmten Anzahl von Leistungserbringern ein verbindliches Vertragsangebot mit unverhandelbaren Bedingungen gemacht.

Behörde wurde mit Angeboten überschüttet

Konkret: Händler, die angaben, bis zum 30. April mindestens 25.000 Masken zu einem Preis von 4,50 Euro pro FFP2-Maske sowie 60 Cent pro OP-Maske an einen Lagerort nahe Erfurt liefern zu können, hatten einen Vertrag mit dem BMG sicher. Darüber hinaus ent­hielt die Vereinbarung den Passus, dass die „vereinbarte Vergütung binnen einer Woche nach Lieferung und Eingang einer Rechnung“ erfolgen würde.

Ob Müller-Wrede & Partner dem BMG hier zu einem zu großzügigen Angebot geraten ha­ben oder das Instrument des Open-House-Verfahrens an sich in dieser Situation schlecht gewählt war, wird sich noch zeigen müssen. Klar ist, dass das BMG in der Zeit zwischen Ende März und dem 8. April, in der potenzielle Vertragspartner einen Antrag für die Teil­nahme an dem Open-House-Verfahren stellen konnten, mit Angeboten überschüttet wurde.

„Es entsteht der Eindruck, dass das BMG keine Vorstellung davon hatte, auf welches Inter­esse das Open-House-Verfahren stoßen könnte, als es sich für das Verfahren entschied. Es ist daher durch das BMG zu klären, ob der Mangel an Schutzausrüstung zum Zeitpunkt des Starts des Open-House-Verfahrens wirklich so groß war, dass er dessen Anwendung rechtfertigte“, sagt Haushaltsexperte Karsten Klein.

9,5 Millionen Euro für Wirtschaftsprüfer

Dass das Verfahren binnen weniger Tage außer Kontrolle geriet, lässt sich auch daran er­kennen, dass das BMG schon am 7. April, also noch vor Ende des Vergabezeitraums, einen weiteren Dienstleister zu Hilfe holte, der die gesamte Abwicklung des Verfahrens organi­sie­ren sollte.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) erhielt diesen Auftrag ohne Aus­schreibung. Andere Unternehmen bekamen so keine Chance, sich um die nach Ministeri­ums­angaben mit 9,5 Millionen Euro honorierte Aufgabe zu bewerben.

Doch auch EY konnte die Flut scheinbar nicht bewältigen, denn obwohl die Maskenbe­schaf­fung offiziell zum 3. Juni eingestellt wurde, ist das Verfahren offenbar noch immer nicht abgeschlossen, offene Rechnungen sind nicht beglichen.

Nach Angaben des BMG wurden mehr als 700 Zuschläge erteilt. Knapp die Hälfte dieser Vertragspartner habe die Lieferzeit nicht einhalten können und sei aus dem Geschäfts­verhältnis ausgeschieden.

70 Lieferanten erhalten kein Geld

Die verbliebenen 361 Unternehmen hätten persönliche Schutzausrüstung geliefert, aus Sicht des Ministeriums jedoch nicht alle in ausreichender Qualität. „Bei 70 Lieferanten wurde vollständig von der Lieferung zurückgetreten“, erklärte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage.

Mit 194 Lieferanten seien die Verträge mittlerweile abgewickelt, also vollständig bezahlt, worden. „Bei circa 100 Lieferanten wurde ein Teil der Lieferung bezahlt“, so der Sprecher weiter. Insgesamt seien bereits 852 Millionen Euro an Open-House-Lieferanten ausge­zahlt worden.

Als Grund für die Verzögerung gibt das BMG auf Anfrage „logistische Probleme“ an. Viele Masken hätten dem vom TÜV Nord begleiteten dreistufigen Qualitätssicherungsprozess nicht standgehalten, Rechnungen seien fehlerhaft gestellt worden, Unterlagen hätten ge­fehlt. Einige Händler hätten daher nach einer Mengenkontrolle zunächst nur 50 Prozent des vereinbarten Preises erhalten.

Der volle Preis wurde erst nach bestandener Qualitätskontrolle gezahlt. Durch Abweisung und Rückgabe minderwertiger Ware seien allein bis Ende Juni 550 Millionen Euro einge­spart worden, schreibt das BMG in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion.

Durch systematische Prüfung sei eine Vielzahl an Rechnungen zugunsten des Bundes kor­ri­giert worden. Von den im Rahmen des Open-House-Verfahrens zur Verfügung gestellten 5,5 Milliarden Euro, kalkuliert das BMG derzeit nur noch mit 946 Millionen Euro.

„Die Differenz zwischen diesen Beträgen zeigt mehr als deutlich, mit welchen Unsicher­heiten das Verfahren hinsichtlich seiner Kosten und der zu erwartenden Liefermenge ver­bunden ist“, so FDP-Experte Klein.

Diese bekamen wohl vor allem die Händler zu spüren. In Internetforen und verschiede­nen Medien melden sie sich mittlerweile zu Wort. Es habe große Probleme mit der Logis­tik gegeben. Die dafür zuständige Firma Fiege habe teils keine Lieferzeiten angeboten, Fris­ten hätten so nicht eingehalten werden können. Für vermeintlich mangelhafte Ware seien keine Prüfberichte vorgelegt worden.

Händler, die für die Masken in Vorkasse gegangen waren, bangen um ihre Existenz. Min­destens 48 haben mittlerweile Klagen vor dem Bonner Landgericht eingereicht. Sollten sie Recht bekommen, dürften Millionenbeträge fällig werden. Auch aus Kreisen der Oppo­sition war bereits der Vorwurf zu hören, das BMG suche nach einer einfachen Möglichkeit, sich aus einem Teil der offenbar zu großen Zahl von Verträgen zurückzuziehen.

Verfahren ist scheinbar aus dem Ruder gelaufen

„Das BMG hat mit dem Open-House-Verfahren auf das Geschick und die Kontakte von Unternehmen gesetzt, weil es zu dem Zeitpunkt mit der Beschaffung überfordert war“, sagt Klein. „Nun hat der Unternehmergeist scheinbar die Erwartungen deutlich über­troffen. Dafür sollten aber nicht die Unternehmen büßen müssen, indem das BMG jede vertragsrechtliche Möglichkeit ausnutzt, um Verträge zu kündigen oder sich mit Liefe­ranten vor Gericht trifft.“

Seine Fraktion fordert nun in einer Kleinen Anfrage genauere Informationen zu Zahlungs­verzug, Modalitäten des Open-House-Verfahrens sowie zur Anzahl der vorliegenden Kla­gen.

„Das Open-House-Verfahren zur Beschaffung von Schutzausrüstung ist anscheinend völlig aus dem Ruder gelaufen“, glaubt auch Kordula Schulz-Asche. Auch die Grünen-Politikerin hat gemeinsam mit Kollegen ihrer Bundestagsfraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, in der es um mangelhafte Masken geht.

„Sollte es Qualitätsprobleme bei den gelieferten Masken gegeben haben, wäre es legitim, diese Masken nicht abzunehmen und somit auch nicht zu bezahlen“, so die Bundestags­ab­geordnete. Presseberichte hätten jedoch nahegelegt, dass die Verträge teilweise mit zu heißer Nadel gestrickt worden und so große Schlupflöcher entstanden seien.

„Wir wissen nicht, in wie vielen Fällen bereits ein Zuschlag seitens des BMG erteilt wurde und ob den betreffenden Herstellern die Möglichkeit zur Nachbesserung gegeben wurde“, so Schulz-Asche. „Wir erwarten, dass Jens Spahn und das BMG offen kommunizieren, damit eine politische Bewertung dieses Sachverhaltes möglich wird."

Verfahrensrüge liegt beim Bundeskartellamt

Derweil sieht sich das BMG noch weiteren Vorwürfen ausgesetzt. Gegen die Beschäfti­gung von EY liegt eine Verfahrensrüge beim Bundeskartellamt vor. Der in Hanau an­sässi­ge, nicht an dem Verfahren beteiligte Vergaberechtsexperte Harald Nickel hatte diese eingereicht, weil das BMG die Wirtschaftsprüfer ohne Ausschreibung beauftragt hatte.

Ihm gehe es um die Klärung, wann der Bund gehalten sei, sich an gesetzlich vorge­schrie­bene Formen der Vergabe zu halten, erklärte er dem Tagesspiegel.

In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion rechtfertigt sich Spahns Behörde damit, dass mit der COVID-19-Pandemie „ein unvorhersehbares Ereignis vorlag“ und dringliche und zwingende Gründe die Einhaltung der bei Ausschreibungsverfahren üblichen Fristen unmöglich gemacht hätten.

„Es gab eine Flut an Angeboten. Die durch das BMG ursprünglich beauftragten Dienst­leister waren Presseberichten zufolge heillos überfordert. Vor diesem Hintergrund klingt die Begründung für die freihändige Vergabe zunächst nachvollziehbar“, meint Schulz-Asche. Es sei aber momentan nicht klar, ob diese Einschätzung dauerhaft trage.

Opposition fordert unabhängige dritte Meinung

Denn vor der Vergabekammer des Bundes lässt sich das BMG nun von eben jenem ur­sprünglich beauftragten Dienstleister vertreten, der das Open-House-Verfahren mitver­antwortet: der Kanzlei Müller-Wrede & Partner.

„Für eine transparente Aufklärung möglicher Fehler bei der Ausarbeitung des Vergabever­fahrens, für die die Kanzlei verantwortlich sein könnte, dürfte dieses Vorgehen kaum hilfreich sein“, sagt Klein.

„Es wirkt beinahe als gebe das BMG hier der Kanzlei die Möglichkeit sich in gewisser Wei­se selbst zu verteidigen. Ich fordere das BMG auf, sich eine unabhängige dritte Meinung einzuholen.“ Ob das noch geschieht, wird sich bis Ende dieses Monats zeigen.

alir

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