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Der britische Patient: 75 Jahre Gesundheitsdienst

  • Mittwoch, 5. Juli 2023
/picture alliance, Dominic Lipinski
/picture alliance, Dominic Lipinski

London – Ein Gottesdienst mit royalem Gast: Zum 75. Geburtstag werden dem britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) große Ehren zuteil. In der Londoner Westminster Abbey, wo kürzlich König Charles III. gekrönt wurde, soll morgen das Lob für Hunderttausende Ärzte und Pflegekräfte erklingen.

Nur angemessen, sagen viele, die den National Health Service als Helden der Pandemie erlebt haben. Doch die Fassade trügt gewaltig. Nicht nur, weil die Briten eine Hassliebe mit dem steuerfinanzierten Dienst ver­bindet, wie die BBC kommen­tierte. Vielmehr liegt der Jubilar längst selbst auf der Intensivstation – und die Versorgung fällt immer schwerer.

Rund 7,42 Millionen Menschen warteten im April auf eine Routineversorgung – so viele wie noch nie. Fast 3,1 Millionen davon standen länger als 18 Wochen, die als Maximum vorgegebene Zeit, auf den Wartelisten. 371.000 harrten sogar schon mehr als ein Jahr aus.

Premierminister Rishi Sunak hatte versprochen, die Wartezeiten deutlich zu reduzieren. Seitdem ist die Zahl aber auf einen Rekordwert gestiegen. Stand jetzt ist Sunak gescheitert – wie mit so vielen Ankündigungen.

Auch bei Notfällen dauert es deutlich länger als vorgegeben, bis ein Rettungs­wagen eintrifft. Viele Briten kennen Horrorgeschichten, bei denen etwa ältere Menschen nach einem Sturz einen Tag auf dem Boden ver­bringen mussten, bevor Hilfe eintraf. Nur noch 29 Prozent sind mit dem NHS zufrieden, wie eine Erhebung im Frühling ergab – der niedrigste Wert seit Beginn der Befragung vor 40 Jahren.

Das war 1948 ganz anders. Die Euphorie war gewaltig. „Das einzige Ding, das nicht nachgefragt wurde, war ein Glasauge“, berichtete ein Arzt über den ersten Tag. Öffentlichkeitswirksam meldete sich auch der damalige König George VI. mit seiner Familie – und also auch seiner ältesten Tochter, der künftigen Queen Elizabeth II. – an. Der frühere Finanzminister Nigel Lawson sagte einmal, der NHS sei für die Briten das, „was einer Reli­gion am nächsten kommt“.

Der Dienst bietet jedem Einwohner des Vereinigten Königreichs eine medizinische Versorgung, sowohl über Hausärzte, GP genannt, als auch in Krankenhäusern. „Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind kann ihn nutzen“, warb die Regierung damals. „Es gibt kein Höchstalter und keine Kosten.“ Der NHS war der Gipfel des Wohl­fahrtsstaats – und ist nun für viele das Symbol für „broken Britain“, ein „zerbrochenes“ Großbritannien, in dem nichts mehr funktioniert.

Beispiel Streiks: In vielen Branchen kam es seit vorigem Sommer zu Arbeits­kämpfen. Wegen der rasant stei­genden Lebenskosten fordern Beschäftigte höhere Löhne, bei den Bahnen, der Royal Mail, in Behörden – und auch beim NHS.

Erstmals in ihrer Geschichte riefen Medizinergewerkschaften zum Streik auf. Etwa 650.000 Termine und Ope­ra­tionen mussten deshalb verlegt werden. Noch immer sind in einigen Bereichen die Fronten verhärtet. Kurz nach dem NHS-Jubiläum wollen Ärzte fast eine Woche streiken, das gab es so lange noch nie.

Der Vertrauensverlust zwischen Regierung und NHS-Kräften sei auf einem historischen Hoch, sagte Phil Ban­field vom Ärzteverband British Medical Association (BMA) der britischen Nachrichtenagentur PA. Es sei eine Farce, dass die Mediziner keine andere Möglichkeit mehr sähen als Streiks.

Die Arbeitsbe­dingungen werden immer schwieriger, mehr Geld gibt es aber nicht. Auch deshalb verlassen viele Fachkräfte den NHS. Viele EU-Beschäftigte sind bereits wegen des Brexits weg. Nach Regierungsan­gaben fehlen 112.000 Mitarbeiter allein in England.

Mit einer gewaltigen Reform will Premierminister Sunak nun den britischen Patienten wieder aufpäppeln. Mehr als 300.000 zusätzliche Ärzte, Pflegekräfte und andere Mitarbeiter sollen in den kommenden 15 Jahren eingestellt werden, zudem sind Änderungen bei der Ausbildung geplant.

Bis zur nächsten Parlamentswahl, die für 2024 geplant ist, dürften die Maßnah­men aber kaum greifen. Keine guten Aussichten für Sunaks Konservative Partei, die in Umfragen deutlich zurückliegt.

Schon 1948 waren nicht alle euphorisch. „Es wird kein Wunder geschehen, wenn der neue Gesundheitsdienst am 5. Juli beginnt“, sagte John Edwards, damals rechte Hand des Gesundheitsministers. „Es gibt viele veraltete Gebäude, es mangelt an Ausrüstung und Personal, und es wird 60.000 Betten geben, die nicht genutzt werden können, weil es nicht genügend Pflegekräfte gibt.“

Fast scheint es, als wäre der NHS seit seiner Gründung keinen Schritt weiter. Eine Privatisierung als Lösung kommt aber nicht in Betracht. 90 Prozent der Briten wollen, dass das Angebot weiterhin kostenlos für alle zur Verfügung steht.

dpa

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