Politik

Fremdbestimmung und Arbeitsorganisation entscheidend für Selbstständigkeit von Poolärzten

  • Montag, 5. Februar 2024
/Ursula Page, stock.adobe.com
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Berlin – Das Bundessozialgericht (BSG) hat die seit Wochen erwartete Urteilsbegründung zum sogenannten Poolärzteurteil veröffentlicht (Az.: B 12 R 9/21 R). Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sieht dieses als Voraussetzung für möglicherweise anstehende Neuregelungen bei den Notdiensten der Kassenärztlichen und Kassenzahnärzt­lichen Vereinigungen (KVen und KZVen).

Das Urteil hatte Ende Oktober des vergangenen Jahres umgehend Konsequenzen gehabt: Nachdem der 12. Se­nat des BSG befunden hatte, dass ein 69-jähriger Zahnarzt aus Baden-Württemberg im Rahmen der von ihm erbrach­ten Notdienste sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist, hatten mehrere KVen ihren Not­dienst ein­geschränkt, da auch sie dazu auf sogenannte Poolärzte zurückgriffen.

Allerdings hatte das Gericht schon bei der mündlichen Urteilsbegründung explizit erklärt, dass es keine allge­meingültige Entscheidung über die Frage einer möglichen Sozialversicherungspflicht gefällt haben wollte, sondern sich auf die konkreten Verhältnisse im vorliegenden Fall bezogen habe.

Da die Notdienste in den verschiedenen KVen unterschiedlich organisiert sind, erklärte das BMG, die Urteils­begründung abwarten zu wollen. Erst nach der Analyse wollte die Politik Schlussfolgerung daraus für mögliche Neuregelungen ziehen.

Auch viele KVen haben die Urteilbegründung mit Spannung erwartet, schließlich stellt der Senat darin nicht nur ausführlich dar, warum er zu seiner Entscheidung gelangt ist, sondern auch, über welche Konstellationen er explizit nicht geurteilt hat.

„Das hier gefundene Ergebnis betrifft allein die Tätigkeit des Klägers in dem von der Beigeladenen konkret prak­tizierten vertragszahnärztlichen Notdienst“, heißt es in der Urteilsbegründung. Es sei deshalb nicht auszu­schließen, dass die ärztliche Tätigkeit in einem auf andere Art und Weise betriebenen Notdienst einer anderen Statuszuordnung zugänglich sei.

„Dem nachvollziehbaren Bedürfnis der Betroffenen nach Verwaltungsvereinfachung und erhöhter Rechtssicher­heit durch abstraktere, einzelfallüberschreitende Aussagen im Hinblick auf bestimmte Berufs- oder Tätigkeits­bil­der kann der Senat auch weiterhin nicht – auch nicht im Sinne einer ‚Regel-Ausnahme-Aussage‘ – nach­komm­en“, betonen die Richterinnen und Richter.

Es sei daher möglich, dass ein und derselbe Beruf – je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grund­lagen in ihrer gelebten Praxis – entweder als Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werde.

So spielte nach Aussagen des Gerichts im vorliegenden Fall des 69-jährigen Zahnarztes unter anderem die Tat­sache eine Rolle, dass er nicht mehr niedergelassen gewesen ist und seine Leistungen nicht selbst abgerechnet hatte.

Die Teil­nahme an der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung kann laut BSG auch deshalb nicht als allgemeingültiges Kriterium für eine Selbstständigkeit herangezogen werden, weil der Zahnarzt im betroffenen Notdienst­modell eine Vergütung nach festem Stundensatz erhalten hatte.

Das unterscheide sich erheblich vom allgemeinen Vergütungssystem der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung mit einer Vergütung der individuell erbrachten Leistungen, so das Gericht. So würden Poolärzte, soweit sie keine Vertragsärzte seien, in anderen KVen eine eigene Abrechnungsnummer für die im Notdienst erbrachten Leistun­gen erhalten. Gleichzeitig werde andernorts – beispielsweise in Bayern – ein Verwaltungskostenbeitrag auf das Honorar des Poolarztes erhoben.

Ausschlaggebend für die Entscheidung des Senats, die Tätigkeit als abhängige Beschäftigung einzustufen, war dem Urteil zufolge, dass der Zahnarzt „in einer seine Tätigkeit prägenden Weise in die von der Beigeladenen (der KZV Baden-Württemberg, Anm. d. Red.) zur Erfüllung des ihr zugewiesenen Sicherstellungsauftrags organi­sierten Abläufe eingegliedert war, ohne hierauf nachhaltig unternehmerisch Einfluss nehmen zu können“.

So habe er neben dem festen Lohn für geleistete Einsatzstunden beispielsweise keinen Verdienstausfall zu be­fürchten gehabt. Auch habe er keine Chance gehabt, durch unternehmerisches Geschick seine Arbeit so effizient zu gestalten, dass er das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten entscheidend hätte beeinflussen können.

Wichtiger sei aber die Tatsache gewesen, dass er sich bei der Erbringung seiner Tätigkeit auch rein praktisch in die vorgegebene Organisation des vertragszahnärztlichen Notdienstes eingefügt und keinen substanziellen Einfluss auf sie gehabt habe.

Schließlich sei es die KZV gewesen, die die Räumlichkeiten gemietet habe sowie für personelle und materielle Ausstattung gesorgt habe, auf die der Zahnarzt bei seinen Dienstleistungen angewiesen gewesen sei. Das un­ter­scheide sich von anderen möglichen Modellen wie etwa einem ärztlichen Not- oder Bereitschaftsdienst zu sprechstundenfreien Zeiten in den Praxen von kooperierenden Ärzten oder mobilen Not- und Bereitschafts­diensten.

Ein Recht, Equipment oder Personal der KZV-Räumlichkeiten zu verändern oder auch nur auf deren Auswahl Einfluss zu nehmen, habe der Zahnarzt im vorliegenden Fall nicht gehabt. Allenfalls habe er konkrete Abläufe während der individuellen Behandlung bei seiner zahnärztlichen Tätigkeit steuern können. Dies war ein weite­res Argument der KZV in dem Verfahren: Sie hatte argumentiert, dass er nicht weisungsgebunden gewesen sei, was schließlich Voraussetzung für eine abhängige Beschäftigung sei.

Auch diese Auffassung hat das BSG nun zurückgewiesen. Denn insbesondere bei Hochqualifizierten oder Spe­zialisten – sogenannten „Diensten höherer Art“, zu denen Ärzte und Zahnärzte zweifelsfrei gehören – könne das Weisungsrecht „aufs Stärkste eingeschränkt sein“, wie die Richter schreiben.

„Dennoch kann die Dienstleistung in solchen Fällen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebs erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird“, heißt es in der Urteilsbegründung. „Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers verfeinert sich in solchen Fällen zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess.“

Dabei falle auch nicht entscheidend ins Gewicht, dass der klagende Zahnarzt eine Mitwirkung daran hatte, wann er welche Dienste belegt. Zwar sei er in der Übernahme von konkreten Terminen frei gewesen. Seine Berechtigung, sich auf Notdienstschichten bewerben zu können, zeige aber, „dass die einzelnen Einsätze in einer auf Dauer angelegten Rechtsbeziehung eingebettet waren“.

Gleiches gelte für die Tatsache, dass er auch die Möglichkeit hatte, unter bestimmten Voraussetzungen Schich­ten zu tauschen. Denn er habe kein allgemeines Recht gehabt, den Dienst an einen anderen Zahnarzt zu dele­gieren, so das BSG.

Stattdessen hätten Notfalldienste nur in zwingenden Fällen innerhalb des Notfalldienstbezirks getauscht wer­den können, wobei die zuständige Bezirksdirektion der KZV mindestens eine Woche vor Beginn des Notfall­dienstes zu informieren gewesen sei.

Nur wenn er nicht vorhersehbar, kurzfristig verhindert gewesen wäre, hätte er demnach das Recht – und gleich­zeitig die Pflicht – gehabt, für eine geeignete Vertretung zu sorgen. Diese hätte er unverzüglich und unaufge­fordert der zuständigen Bezirksdirektion melden müssen. Diese Regelungen kämen aber nicht einer allgemei­nen Delegationsbefugnis gleich.

„Sie vermitteln dem Kläger nicht das Recht, nach seinem Ermessen Dritte in die Leistungserbringung einzu­schalten, sondern die Pflicht, im Falle seiner eigenen Verhinderung in zwingenden Fällen im Interesse der Beigeladenen für eine qualifizierte Ersatzkraft zu sorgen“, schreiben die Richter. „Insgesamt erweist sich daher seine Tätigkeit – abgesehen vom Kernbereich der medizinischen Behandlung – als fremdbestimmt.“

Auch ergebe sich daraus kein unternehmerisches Risiko, beispielsweise durch Verdienstausfälle wegen nicht wahrgenommener Schichten. Zwar sei das Risiko, keine weiteren Folgeaufträge zu erhalten, tatsächlich für ihn in Betracht gekommen. Da es lediglich auf die konkret verrichtete Tätigkeit ankomme, sei das für die Frage nach seinem Status in dieser Tätigkeit aber irrelevant. Schließlich ergebe sich daraus kein Unternehmerrisiko bezüg­lich der einzelnen Einsätze.

Ebenfalls zurückgewiesen hat der Senat das Argument der KZV, dass es sich nicht um eine abhängige Beschäf­tigung gehandelt habe, weil die Einteilung des Arztes in die Notdienstschichten ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt gewesen sei.

Ein solcher Verwaltungsakt hätte demnach „für sich betrachtet keinen übergeordneten, von den konkreten Um­ständen losgelösten Einfluss auf den sozialversicherungsrechtlichen Erwerbsstatus“. Auch eine durch Verwal­tungs­akt begründete Tätigkeit könne also als abhängige Beschäftigung ausgeübt werden.

Dabei hatte die KZV auch darauf abgehoben, dass es sich beim Notdienst primär um einen „Ausfluss der allge­meinen Berufspflichten“ von Ärzten handele, insbesondere von solchen, die selbstständig tätig sind. Dadurch führe die Organisation des Notdienstes durch die jeweiligen Träger nicht zur Einrichtung eines Betriebs im arbeitsrechtlichen Sinne, weshalb die Träger des Notdienstes auch nicht zu Arbeitgebern und die den Notdienst durchführenden Ärzte nicht zu deren Arbeitnehmern würden.

Diese Argumentation vermöge es jedoch nicht, im vorliegenden Fall eine andere Beurteilung zu rechtfertigen, da sie eben an eine Organisation des Notdienstes in erster Linie von niedergelassenen Ärzten mit eigener Praxis anknüpfe – und ein solches Modell eben nicht beurteilt worden sei, urteilte das BSG.

Stattdessen habe der klagende Zahnarzt den Notdienst wahrgenommen, ohne dass er bereits wegen einer Zulassung zur vertragszahnärztlichen Versorgung unmittelbar dazu verpflichtet gewesen wäre. „Daher kann hier offenbleiben, ob die Teilnahme am Notdienst durch einen niedergelassenen Vertrags(zahn)arzt als notwendiger Bestandteil einer selbstständigen Tätigkeit angesehen werden müsste“, schlussfolgern die Richter.

lau

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