Ärzteschaft

Bundessozialgericht: Poolärzte nicht automatisch selbstständig

  • Dienstag, 24. Oktober 2023
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Kassel – Nicht niedergelassene Zahnärztinnen und Zahnärzte, die in Baden-Württemberg an der vertrags­zahnärztlichen Not­dienstversorgung teilnehmen, sind nicht automatisch selbstständig. Das hat das Bundes­sozialgericht (BSG) in Kassel heute entschieden (Az.: B 12 R 9/21 R) und damit in einem Fall geurteilt, dass ein klagender Zahnarzt während seiner Notdiensttätigkeit als abhängig Beschäftigter der Sozialversiche­rungs­pflicht unterlag. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) reagiert umgehend mit einem Notfallplan.

Damit hat der 12. Senat des BSG heute zwar einen jahrelangen Rechtsstreit beendet, nach Aussage des Vor­sitzenden Richters Andreas Heinz jedoch ohne die weitreichenden Konsequenzen, die vonseiten Kassenärztli­cher und Kassenzahnärztlicher Vereinigungen (KZVen) im Vorfeld befürchtet worden waren.

Mit Blick auf vorhergegangene Medienberichterstattung betonte Heinz, es handele sich um eine Entschei­dung in einem spezifischen Einzelfall, ohne dass daraus zwangsläufig landes- oder bundesweite Konsequen­zen entstehen müssten. Gegenstand der Abgrenzung sei niemals ein abstrakter Beruf oder ein Tätigkeitsfeld, sondern nur jener konkrete Fall.

„Deshalb ist es falsch, zu behaupten, wir würden heute allgemein über den kassenärztlichen oder kassen­zahn­ärztlichen Notdienst in Baden-Württemberg oder darüber hinaus eine Entscheidung fällen“, erklärte er zu Be­ginn der Verhandlung. „Es geht nur um den vorliegenden Fall und das konkrete Modell. Es gibt schließlich auch andere Modelle.“

Aufgrund der Vielzahl von im Detail unterschiedlichen Modellen zur Sicherstellung des Notdienstes könne keine einheitliche, ausnahmslose Aussage über den Sozialversicherungsstatus von sogenannten Poolärzten im Notdienst getroffen werden, unterstrich er.

Im heute verhandelten Fall war die Revision eines 58-jährigen Zahnarztes gegen ein 2021 ergangenes Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg erfolgreich. Er hatte im März 2017 seine Praxis verkauft und hat seitdem keine Kassenzulassung mehr.

Daraufhin war er von Januar 2018 bis April 2019 regelmäßig in einem zahnärztlichen Notfalldienstzentrum tätig, das die Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KZV BW) in Heidelberg betrieb. Im Schnitt übernahm er dreimal im Monat den Wochenendnotdienst. Es war seine einzige berufliche Tätigkeit.

Allerdings verstritt er sich mit der KZV BW: Es kam zu Unstimmigkeiten mit Blick auf Behandlungsmodalitä­ten, speziell Wurzelbehandlungen an Molaren. Der Zahnarzt weigerte sich, eine „persönliche Erklärung“ zu einzelnen Behandlungsinhalten zu unterzeichnen, woraufhin ihn die KZV nicht mehr zu Notdiensten einteilte.

Deshalb zog er vor das Arbeitsgericht Mannheim. Dort wollte er feststellen lassen, dass es sich bei seiner Not­diensttätigkeit um ein Arbeitnehmerverhältnis gehandelt habe und forderte von der KVZ BW unter anderem die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und Urlaubsabgeltung.

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab und begründete das damit, dass er einer selbstständigen Tätigkeit nach­gegangen sei. Also wandte er sich an die Deutsche Rentenversicherung Bund und beantragte dort die Fest­stell­ung, dass ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliege.

Auch das war erfolglos. Es habe keine Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestanden. Nachdem sein Widerspruch dagegen zurückgewiesen wurde, erhob er dagegen Klage vor dem Sozialgericht Stuttgart – diese Klage wurde ebenfalls abgewiesen.

Revision erfolgreich

Seine Berufung dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg war genauso erfolglos; seine Revision gegen die Entscheidung des LSG, die nun am Bundessozialgericht verhandelt wurde, hingegen nicht.

Zentrale Streitpunkte im heutigen Verfahren waren dieselben Aspekte, die schon die vorherige Argumentation geprägt hatten: Die Weisungsgebundenheit des Zahnarztes, seine Einbindung in die Arbeitsorganisation des Notdienstzentrums, die Abrechnung der erbrachten Leistungen sowie die Bereitstellung der Räumlichkeiten und der technischen Ausstattung durch die KZV BW.

So hatte der Zahnarzt argumentiert, dass ihm die KZV BW konkrete Vorgaben und Fachanweisungen gegeben habe und sogar wiederholt versucht worden sei, in die zahnärztliche Therapiefreiheit einzugreifen. Die KVZ BW hatte diese Vorwürfe zwar nicht komplett zurückgewiesen, ihre Relevanz für den Fall jedoch verneint. Generell habe es keine fachlichen Weisungen gegeben, sondern nur „Hinweise hinsichtlich der Richtlinien“.

„Angenommen, wir hätten ihm vorgeschrieben, wie eine medizinische Behandlung durchzuführen ist, würde es sich um eine unzulässige Weisung handeln“, erklärte der Vertreter der KZV BW vor Gericht. „Eine solche un­zulässige Weisung kann aber kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründen.“

Auch der Senat teilte diese Auffassung, betonte jedoch: „Allein daraus, dass freie Berufe weisungsfrei sind, ist nicht zu schlussfolgern, dass man selbstständig ist“, erklärte Heinz. „Es gibt ja noch den Aspekt der Einglie­de­rung in einen Betrieb.“

Das LSG hatte noch befunden, dass Vertragszahnärzte, die auf der Grundlage eines gegebenenfalls mitwir­kungsbedürftigen Verwaltungsakts am Notdienst teilnehmen, nicht in einen fremden Betrieb eingegliedert seien.

Die Durchführung von Notdiensten sei „Ausfluss der allgemeinen Berufspflichten von Ärzten und gerade auch und in erster Linie von selbständig tätigen Ärzten“, weshalb die Organisation des Notdienstes durch die KVen oder KZVen nicht zur Einrichtung eines Betriebs im arbeitsrechtlichen Sinne führe.

Die Vertreter der KZV BW trugen diese Auffassung erneut vor: Anders als beispielsweise Ärzte in Kranken­häu­sern habe der klagende Zahnarzt nicht auf Basis eines Vertrags, sondern ebenjenes Verwaltungsaktes seine Arbeit vollzogen.

Diese Ansicht wies Heinz zurück. „Warum sollte man nicht im Rahmen eines mitwirkungsbedürftigen Verwal­tungsaktes abhängig beschäftigt sein?“, fragte er. Die Vorinstanzen hätten sich zu dieser Frage nicht verhalten. Auch Beamte seien schließlich aufgrund eines Verwaltungsakts abhängig beschäftigt – nur dass der Gesetz­geber sie eben explizit von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen habe.

Die Frage, ob der klagende Zahnarzt abhängig beschäftigt gewesen sei, sei aus Sicht des BSG hingegen durch­aus zu bejahen. Denn er sei voll in die Arbeitsorganisation des Notdienstzentrums involviert gewesen – aller­dings ohne, dass er einen entscheidenden Einfluss darauf gehabt habe. Vielmehr habe er eine zuvor organi­sierte Struktur vorgefunden, in die er sich fremdbestimmt eingefügt habe.

Besonders hervorzuheben sei dabei, dass er keine eigenen Abrechnungen habe vornehmen können, sondern mit einem Stundenhonorar von 34 bis 50 Euro, abhängig von der jeweiligen Schicht, vergütet worden sei.

Die KZV BW hatte das mit technischen Gründen erklärt: Im Einheitliche Bewertungsmaßstab für zahnärztliche Leistungen (BEMA) seien Faktoren wie Praxis- und Materialkosten berücksichtigt. Die aber seien bei dem im Notfalldienstzentrum angestellten Zahnarzt gar nicht angefallen.

Dadurch, dass er nicht selbst habe abrechnen können, sei es jedoch nicht möglich gewesen, eine volle Wirt­schaftlichkeitsprüfung vorzunehmen, erwiderte die Klageseite daraufhin. Das wiederum spreche für eine ab­hängige Beschäftigung.

Auch das BSG sah das als einen wesentlichen Punkt. Der Wegfall der Wirtschaftlichkeitsprüfung in Kombina­tion mit einem festen Lohn zeige, dass der Kläger keinen unternehmerischen Spielraum hatte, mithin also auch kein unternehmerisches Risiko getragen habe.

Er sei nicht in der Lage gewesen, das Verhältnis von Aufwand und Ertrag durch eigene Entscheidungen zu beeinflussen. Dementsprechend sei er in dem genannten Zeitraum abhängig beschäftigt gewesen und seine Recht auf die Zahlung von Sozialbeiträgen verletzt worden.

Für die ärztlichen Notdienste in Baden-Württemberg hat das Urteil unmittelbare Konsequenzen: Die Kassen­ärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) reagierte darauf mit einem ab sofort wirksamen Notfall­maßnahmenplan.

Denn der Bereitschaftsdienst der KV habe in seiner Organisationsstruktur wesentliche Ähnlichkeiten mit dem KZV BW. Die Entscheidung sei deshalb übertragbar, weshalb das bestehende System des ärztlichen Bereit­schaftsdienstes in Baden-Württemberg in der bisherigen Form nicht weitergeführt werden könne, hieß es.

„Das Urteil zwingt uns, eine Notbremse zu ziehen und sofortige Maßnahmen zu ergreifen. Das heißt, dass wir heute mit sofortiger Wirkung die Tätigkeit der Poolärztinnen und Poolärzte im ärztlichen Bereitschaftsdienst beenden“, erklärten die KVBW-Vorstände Karsten Braun und Doris Reinhardt. „Wir waren auf Bundes- und Lan­desebene aktiv, um eine politische Lösung herbeizuführen; leider bislang ohne Erfolg“.

Die rund 3.000 Poolärzte würden für die Versorgungsstruktur eine wesentliche Rolle spielen: Etwa 40 Prozent aller Dienste in den 115 Notfallpraxen und für die medizinisch erforderlichen dringenden Hausbesuche seien bis heute von ihnen geleistet worden. Ihr Wegfall könne nicht auf die Schnelle kompensiert werden, sodass in der Zeit der „Notbremse“ die Zahl der Notfallpraxen und Fahrdienste reduziert werden müsse.

„Selbstverständlich stellen wir den Ärztlichen Bereitschaftsdienst als KVBW weiterhin sicher“, erklärte Rein­hardt. „Den bisherigen Umfang des ärztlichen Bereitschaftsdienstes können wir allerdings allein mit unseren niedergelassenen Vertragsärztinnen und -ärzten nicht stemmen, denn parallel müssen wir auch die Regelver­sorgung sicherstellen.“

Schon das sei angesichts rund 1.000 unbesetzter Arztsitze in Baden-Württemberg schwierig genug. Der Not­fallplan gilt ab morgen und umfasst die Schließung von acht Notfallpraxen, die Teilschließung von Notfall­pra­xen unter der Woche, die Reduzierung der Öffnungszeiten in den Notfallpraxen. Keine Veränderungen gebe es hingegen es bei den gebietsärztlich organisierten Diensten wie dem augenärztlichen und dem HNO-Notfalldienst sowie den Kindernotfallpraxen.

Der Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Wolfgang Miller, stärkt der KV den Rücken. „Die Lage in der Regelversorgung ist sowieso schon angespannt: Die Arztpraxen und Kliniknotaufnahmen sind voll. Nun spitzt sich die Versorgungslage weiter zu“, erklärte er.

Wer nun außerhalb der Praxissprechzeiten den Bereitschaftsdienst aufsuchen wolle, müsse ab sofort länger warten. Gleiches gelte für den Fahrdienst des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. „Patientinnen und Patienten werden dies kaum verstehen.“ Die Landesärztekammer habe grundsätzlich Verständnis für die „Notbremse“ der KVBW.

„Gleichzeitig appellieren wir an die Ärzte- und Patientenschaft, nun erst einmal einen kühlen Kopf zu be­wahren“, sagte er. Es werde intensiv an Lösungen gearbeitet, um die neu entstandene Situation möglichst verträglich gestalten zu können. „Unser Wunsch ist, dass die Politik für Rahmenbedingungen sorgen muss, die wieder einen tragfähigen Notdienst ermöglichen.“

Der Notfallplan sei eine Übergangslösung, betonte auch Reinhardt. Wie die Struktur des ärztlichen Bereit­schaftsdienstes künftig aussehen wird, sei noch offen. „Das werden wir erst entscheiden, wenn uns die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt und wir alle Details kennen. Wir bedauern sehr, zu dieser Maßnahme gezwungen zu werden und hoffen nun auf eine praktikable Lösung durch die Politik“, erklärt Reinhardt.

Enttäuscht reagierte Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Mit der Entscheidung sei dem ärztlichen Bereitschaftsdienst in Baden-Württemberg in seiner jetzigen und gut funktionierenden Form die rechtliche Grundlage entzogen, sagte er. Man stehe regelmäßigen Austausch mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.

Lucha beklagte, er habe sich bereits im Vorfeld der Entscheidung gemeinsam mit anderen Ländern im Bun­des­rat für die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine Ausnahme von der Sozialversicherungspflicht für die Poolärzte eingesetzt. Leider habe der Bund diesem Anliegen eine Absage erteilt.

Struktur künftig offen

Währenddessen herrscht im benachbarten Rheinland-Pfalz große Sorge, dass es sich bei der heutigen Ent­scheidung um einen Präzedenzfall handeln könnte. Etwa ein Drittel aller im Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) arbeitenden Ärzte seien Poolärzte und würden mehr als die Hälfte der anfallenden Dienste leisten.

Im Juni dieses Jahres hatte die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz (KV RLP) eine landesweite Um­frage durchgeführt, bei der fast 90 Prozent von ihnen angegeben hatten, im Falle der Einführung einer So­zialversicherungspflicht nicht mehr für den ÄBD zur Verfügung zu stehen.

Der Vorsitzende des Vorstands der KV RLP, Peter Heinz, befürchtet deshalb, dass künftig rund 60 Prozent der geleisteten Dienste wegfallen könnten. Kleinere ÄBP würden voraussichtlich schließen und die Öffnungs­zeiten in zahlreichen Ärztlichen Bereitschaftspraxen (ÄBP) stark eingeschränkt werden müssen.

„Es ist völlig unverständlich, warum die verantwortlichen Ministerien unsere Hinweise bisher vom Tisch gewischt haben. Statt dringend nötige Reformen in der ambulanten Versorgung auf den Weg zu bringen, schwächt die Politik die Strukturen weiter“, sagt Heinz.

Er verwies auf die seit Mai vorliegende Bundesratsinitiative, die eine Ausnahme zur Sozialversicherungspflicht für Ärzte im ÄBD analog der Regelung für die Ärzte im Rettungsdienst vorsieht. Die jetzigen Maßnahmen wä­ren demnach durchaus vermeidbar gewesen: „Die Folgen dieser ignoranten Gesundheitspolitik, die Realitäten völlig verkennt, werden letztlich leider die Patientinnen und Patienten ausbaden müssen“, bedauert Heinz.

Auch in Rheinland-Pfalz werde die KV die personelle Neuorganisation im ÄBD in den kommenden Wochen intern beraten und die Öffentlichkeit zeitnah über mögliche Änderungen bei den Öffnungszeiten in den ÄBP informieren.

lau

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