Politik

Geschlechter­spezifische Gesundheit: Forschung und Versorgung verbessern

  • Dienstag, 16. Mai 2023
/kaptn, stock.adobe.com
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Berlin – Es braucht mehr geschlechterspezifische Forschung und Versorgung in Deutschland. Das erklärten heute Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Forschung beim Fachforum Innovative Gesundheitswirtschaft des Grünen Wirtschaftsdialog (GWD).

Geschlechter würden sich nicht nur chromosomal, sondern unter anderem auch immunolo­gisch und hor­mo­nell unterscheiden, sagte Mandy Mangler, Chefärztin der Gynäkolo­gie und Geburtshilfe am Vivantes Auguste-Victoria Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln Berlin.

Wenn Studien nur anhand eines Geschlechts durchgeführt würden, gäbe es immer einen Bias. „Das führt zu häufigen Nebenwirkungen und suboptimalen Therapien“, so die Gynäkologin.

Ein klassisches Beispiel dafür ist der Herzinfarkt. „Frauen haben Symptome, die sich anders äußern, als man sich die klassischen Herzinfarkt Symptome vorstellt,“ sagte Mangler. Dazu gehörten etwa Schmerzen zwischen den Schulterblättern oder im Hals-Nacken-Bereich. Das führe zu verzögerten Therapiebeginnen und auch einer erhöhten Mortalität.

Und selbst in der Gynäkologie würden die Belange der Frauen oft nicht berücksichtigt: „Die Gynäkologie in Deutschland hat ein Problem, denn sie berücksichtigt die Perspektive der Frau nicht,“ sagte Mangler.

Das sei zum einen im Großen bei politischen Entscheidungen der Fall, wenn in Papieren der Regierungs­kommission die Geburtshilfe nicht mitgedacht werde. „Aber auch im Kleinen haben wir ein Problem, denn allein die anatomischen Darstellungen von der Frau sind nicht korrekt.“

In standardisierten Aufklärungsbögen würden alte und tabubehaftete Wörter verfestigt. Viele Genitalien hätten das Wort „Scham“ enthalten, diese sollte man Mangler zufolge ersatzlos streichen.

Männliche Sichtweise in Leitlinien verfestigt

Auch in Leitlinien mache sich die männliche Perspektive bemerkbar. Als Beispiel nannte Mangler die S2k-Leitlinie zur Indikation und Methodik der Hysterektomie bei benignen Erkrankungen der Deutschen Ge­sellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). „Hier finden wir wenig Fokus auf Organerhalt oder Sexualität der Frau“, so Mangler.

Die Gebärmutter diene vielen Frauen als Resonanzkörper beim Orgasmus, was aber in vielen Studien nicht nachgewiesen sei. Grund für die fehlende Evidenz ist laut Mangler, dass der Fokus in Studien darauf läge, dass Sexualität Penetration bedeute. Die Vulva und die Klitoris würden dabei oft nicht bedacht.

Es fehle bei frauenspezifischen Erkrankungen, wie Endometriose oder dem prämenstruellen Syndrom oft an Forschung, sagte Saskia Weißhaupt (Grüne), Mitglied des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bun­des­tag.

Zusätzlich gehöre die reproduktive Selbstbestimmung zum Thema „Frauengesundheit“, so Weißhaupt. Sie sprach auch das Thema Verhütung an und erklärte, dass es wichtig sei, die Forschung für Verhütungsme­tho­den für Männer voranzutreiben. Jedoch sei es ebenfalls wichtig, vorhandene Verhütungsmittel einfacher verfügbar zu machen.

Weißhaupt wies jedoch auch darauf hin, dass oftmals jüngere Frauen in ihrer reproduktiven Zeit betrachtet würden. Doch auch danach müsse man etwas für die Frauen in der Gesellschaft tun. „Wir haben eine Reihe von Bedürfnissen von Frauen, die nicht berücksichtigt werden.“

Intersektionale Perspektiven beachten

Gertrud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung, an der Charité und Ge­schlechter­forschung in der Medizin (GIM), machte auf die intersektionale Perspektive aufmerksam: „Es reicht nicht, das genomische und psychosoziale Geschlecht anzuschauen.“

Dabei reiche es nicht aus, das Geschlecht nur als binär zu betrachten. Hinzu kämen weitere Perspektiven, wie das Alter, die Ethnizität, der soziale Status, die Pflege- und Sorgearbeit oder die sexuelle Orientierung.

„Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, dass wir diese Datenlücke füllen.“ Dafür haben Stadler und Kollegen das Diversity Minimal Item Set (DiMIS) erstellt, in dem verschiedene Diversitätsdomänen abgefragt werden (Science Direct, 2023 10.1016/j.scp.2023.101072).

Auch Männer sollten mitbedacht werden. So seien psychische Erkrankungen bei Männern vermutlich un­terdiagnostiziert, sagte Stadler. Eine Chance, zugeschnittene Informations- und Präventionsangebote zu schaffen, sieht sie in der elektronischen Patientenakte.

Christoph Habereder von Organon, ein Tochterunternehmen des Pharmaunternehmens MSD, brachte die ökonomische Sichtweise ins Spiel. „Wir können uns die Nichtbeachtung von frauenspezifischen Gesund­eitsbelangen nicht mehr leisten“, erklärte er. Dazu zählten Arbeitsausfälle aufgrund frauenspezifischer Erkrankungen oder auch höhere Gesundheitskosten aufgrund nicht ausreichend erforschter Erkrankungen.

mim

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