GKV-Finanzen: Krankenkassen benötigen zusätzliche Milliardenhilfe vom Bund

Berlin – Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) benötigt im kommenden Jahr einen Rekordzuschuss vom Bund. Dies hat der Schätzerkreis aus Experten von Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und GKV-Spitzenverband prognostiziert.
Hintergrund sind stark gestiegene Ausgaben. Nach Kassenangaben auch aufgrund der Coronakrise, aber vor allem wegen „ausgabenintensiver“ Gesetzgebung der vergangenen Jahre.
Für das laufende Jahr (2021) rechnen die Schätzer mit Ausgaben der GKV in Höhe von 272,2 Milliarden Euro. Um die Finanzlücke zu stopfen, hatte die Regierung unter anderem auf acht Milliarden Euro aus den Finanzreserven der Krankenkassen zurückgegriffen. Der Bundeszuschuss war zudem von 14,5 auf 19,5 Milliarden Euro aufgestockt worden.
Für das Jahr 2022 gibt es nach Angaben des GKV-Spitzenverbands einen zusätzlichen Finanzbedarf von sieben Milliarden Euro. Der Schätzerkreis rechnet laut eigener Mitteilung mit GKV-Ausgaben von rund 284,2 Milliarden Euro und Einnahmen von 256,8 Milliarden Euro.
Darin einbezogen sind bereits der übliche Bundeszuschuss in Höhe von 14,5 Milliarden Euro und eine bereits beschlossene einmalige Bundesfinanzspritze von sieben Milliarden Euro. Eingerechnet sind auch 2,1 Milliarden Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds. Die Finanzlücke zwischen Einnahmen und Ausgaben der GKV für das kommende Jahr beträgt somit 27,4 Milliarden Euro für 2022.
Da gesetzlich festgeschrieben wurde, dass die Zusatzbeiträge im nächsten Jahr bei durchschnittlich 1,3 Prozent stabil gehalten werden sollen, das sind nach Angaben des AOK Bundesverbandes rechnerisch in etwa 20,5 Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen für die Krankenkassen – muss die Lücke von weiteren rund sieben Milliarden Euro durch frisches Geld vom Bund geschlossen werden. Insgesamt würde der Bundeszuschuss damit auf etwa 28,5 Milliarden Euro anwachsen.
Die Bundesregierung muss dafür eine Verordnung auf den Weg bringen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) wollen sich darüber nun abstimmen. Nach Informationen des Deutschen Ärzteblattes soll die Rechtsverordnung Anfang November ins Bundeskabinett und dann in den neu gewählten Bundestag. Der Weg über den Bundestag sei bereits in der bisherigen Gesetzgebung festgelegt worden, hieß es vom Ministerium.
Spahn hatte angesichts des Finanzdefizits der Krankenkassen betonte, man habe in den vergangenen drei Jahren viel investiert: in bessere Pflege, in schnellere Digitalisierung, in flächendeckende Versorgung – und vor allem auch in die Pandemiebewältigung.
„Das zahlt sich für die Patientinnen und Patienten aus. Aber das kostet, zumal nach einer Wirtschaftskrise“, so der Minister. Das Parlament habe die Zusage stabiler Beiträge ins Gesetz geschrieben. Zu dieser Sozialgarantie stehe man.
Aus dem Bundesfinanzministerium hieß es, die Bundesregierung habe eine Sozialgarantie abgegeben, die auch für das Jahr 2022 gelte. „Damit sollen die Sozialversicherungsbeiträge auch im Jahr 2022 unter 40 Prozent stabilisiert werden“, sagte eine Sprecherin.
Ziel der Bundesregierung sei es, Beitragssteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu vermeiden. „Dafür wird die Bundesregierung zügig die erforderliche Rechtsverordnung mit der notwendigen Anpassung ins Kabinett bringen.“
Kassen rufen Politik zum Handeln auf
Vom AOK-Bundesverband kamen kritische Stimmen: „Mit dem heutigen Tag wird das Ausmaß der finanziellen Misere in der gesetzlichen Krankenversicherung also amtlich“, erklärte Knut Lambertin, alternierender Aufsichtsratsvorsitzender für die Versichertenseite.
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Arbeitgeberseite und Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Volker Hansen, sagte: „Der Bundesgesundheitsminister hat mit seiner Ausgabenpolitik und Gesetzgebung wesentlich dazu beigetragen, dass die gesetzliche Krankenversicherung in diese schwierige Lage geraten ist.“ Er müsse jetzt Verantwortung übernehmen und den Fehlbetrag aus Steuermitteln aufbringen.
Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), sprach bei der einvernehmlichen Schätzung von einem „wichtigen Signal“. Sie betonte, sollte die Lücke von sieben Milliarden Euro nicht vom Bund ausgeglichen werden, würde der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz um 0,4 Prozent auf insgesamt 1,7 Prozent ansteigen. „Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundesfinanzminister Olaf Scholz sind nun gefordert, eine entsprechende Rechtsverordnung schnell auf den Weg zu bringen, damit die Krankenkassen ihre Haushalte aufstellen können“, mahnte sie.
Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), erklärte, Spahn habe das Defizit selbst verursacht. „Seine teuren Reformen haben ein wachsendes Loch in die Finanzen der Krankenkassen gerissen. Das wieder zu stopfen ist eine große Aufgabe für die nächste Bundesregierung.“
Einer AOK-Auflistung zufolge entstehen durch 15 in den vergangenen Jahren auf den Weg gebrachte Gesetze zwischen 2019 und 2022 Zusatzkosten für die Kassen in Höhe von fast 37 Milliarden Euro. Darunter ist etwa das „Pflege-Personalstärkungsgesetz“, das die Schaffung zusätzlicher Pflegestellen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ermöglicht und das „Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege“, das etwa Funktionen bei der elektronischen Patientenakte, beim elektronischen Rezept und Möglichkeiten von Videosprechstunden ausweitet.
Spahn hatte gestern beim Pflegetag mit Blick auf die erwartete Kostenschätzung am Abend und mögliche kritische Schlagzeilen gesagt: „Ja, wir waren teuer, weil wir zum Beispiel in Pflege investiert haben.“ Auf dem Pflegetag werde zu recht mehr Personal und bessere Bezahlung gefordert. Andere wiederum verwiesen darauf, dass die Kosten im Gesundheitssystem zu stark stiegen. „Das passt noch nicht so ganz zusammen.“ Die Debatte müsse in der Gesellschaft geführt werden.
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