Lungenspezialisten stellen Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerte infrage

Berlin – Lungenspezialisten haben eine kritische Überprüfung der Auswirkungen von Feinstaub und Stickoxiden auf die Gesundheit gefordert. In einer heute veröffentlichten Stellungnahme äußerte eine Gruppe von mehr als 100 Medizinern erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Methodik bei der Festlegung der Grenzwerte.
Zugleich drängen die Ärzte auf eine Neubewertung der Studienlage. Es gebe derzeit „keine wissenschaftliche Begründung für die aktuellen Grenzwerte“, hieß es in der Stellungnahme. Die Ärztegruppe kritisierte, die Daten zur Gefährdung von Luftverschmutzung seien „extrem einseitig“ interpretiert worden. Andere Faktoren wie Lebensstil, Rauchen, Alkoholkonsum oder Bewegung hätten weitaus stärkere Auswirkungen auf Krankheitshäufigkeit und Lebenserwartung.
Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), Dieter Köhler, der die Stellungsnahme initiierte, sprach von einer „Ideologisierung“ der Debatte über die Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub. Diese werde noch zunehmen, weil vielen Städten weitere Fahrverbote drohten.
Die Kritik der Ärzte bezieht sich auf Studien, in denen Wissenschaftler – unter anderem des Helmholtz-Instituts in München und der Berliner Charité – Krankheiten und Lebenserwartung von Regionen mit unterschiedlicher Feinstaub- oder Stickoxidbelastung verglichen. Demnach besteht für staubbelastete Gebiete ein erhöhtes Erkrankungs- und Sterberisiko. Luftschadstoffe werden mit Lungenerkrankungen, aber auch mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall sowie Diabetes in Zusammenhang gebracht.
Die Fachleute stellen sich damit auch gegen ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), das Ende 2018 veröffentlicht worden war. Darin hieß es: „Studien zeigen, dass die Feinstaub-Belastung durch Landwirtschaft, Industrie und Verkehr gesundheitsschädlich ist.“ Außerdem werden Regularien und Anreize zur Schadstoffvermeidung gefordert.
Nun heißt es von der DGP, der Deutschen Lungenstiftung und dem Verband Pneumologischer Kliniken (VPK), die aktuell veröffentlichte Gegenposition werde „als Anstoß für notwendige Forschungsaktivitäten und eine kritische Überprüfung der Auswirkungen von Stickoxiden und Feinstaub“ betrachtet.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hält die Zweifel der Lungenärzte für gerechtfertigt. „Der wissenschaftliche Ansatz hat das Gewicht, den Ansatz des Verbietens, Einschränkens und Verärgerns zu überwinden“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Initiative der 107 Fachmediziner sei ein wichtiger und überfälliger Schritt. Er helfe mit, „Sachlichkeit und Fakten in die Dieseldebatte zu bringen“.
Der ADAC hat nach der Kritik eine Überprüfung der Kriterien gefordert. „Wenn Bürger von Fahrverboten betroffen sind, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die geltenden Grenzwerte wissenschaftlich begründet sind“, sagte der Vizepräsident des Autoclubs, Ulrich Klaus Becker, in München. Die EU-Kommission müsse die wissenschaftliche Grundlage ihrer Grenzwerte rasch unter die Lupe nehmen. „Dies muss Gegenstand des Prüfauftrags für die Luftqualitätsrichtlinie sein, der im Arbeitsprogramm 2019 der EU-Kommission enthalten ist“, sagte Becker.
Da aber die Grenzwerte bis auf Weiteres rechtlich bindend blieben, dürften Bund und Kommunen auf keinen Fall in ihren Bemühungen nachlassen, Fahrverbote zu vermeiden. „Die begonnenen Maßnahmen zur Erneuerung der Fahrzeugflotte, zur Stärkung des öffentlichen Verkehrs und zur intelligenten Verkehrssteuerung müssen fortgesetzt werden“, forderte der ADAC-Vizepräsident.
Grüne sprechen von Ablenkungsmanöver
Die Grünen halten die neuerliche Debatte für unangebracht. „Es geht hier im Kern um die Frage: Wie schützen wir vorsorgend die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger?“, fragte Bettina Hoffmann, Sprecherin für Umweltpolitik im Bundestag. Grenzwerte seien dazu da, um insbesondere auch empfindliche Menschen wie Kranke, Kinder und Schwangere zu schützen. „Es ist richtig, dass diese Werte streng sind und an der Gesundheit der Schwächsten ausgerichtet sind“, sagte sie.
Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, bezeichnete die Debatte als „Ablenkungsmanöver“, das die ohnehin schon unübersichtliche Lage bei den Fahrverboten „chaotisiert“. „In der Forschung gibt es einen breiten Konsens, dass Stickoxide auch schon im geringen Ausmaß schädlich sind und der Grenzwert eigentlich verschärft werden sollte“, sagte er. Der Verband der Lungenärzte halte die Grenzwerte für absolut geboten zum Schutz der Gesundheit. In der Schweiz gebe es schon längst einen schärferen Grenzwert für Stickoxide.
Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums betonte, die Grenzwerte fußten „auf solider wissenschaftlicher Basis“. Es sei „unbestritten“, dass Feinstaub und Stickoxide den Körper belasteten und die Lebenszeit verkürzen können.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat die Kritik als „politische Effekthascherei“ zurückgewiesen. Die Forderung der Experten, den europaweit geltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid auszusetzen, sei unverantwortlich gegenüber der betroffenen Bevölkerung, sagte Hamburgs BUND-Landesgeschäftsführer Manfred Braasch. Hamburg hatte im vergangenen Jahr als erstes Bundesland wegen hoher Stickoxidbelastung auf zwei Straßenabschnitten Diesel-Fahrverbote verhängt.
40 Mikrogramm pro Kubikmeter
Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid – der Jahresmittelwert darf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter in der Außenluft nicht überschreiten – gelten in der EU seit 2010. Sie beruhen auf einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Auch für Feinstaub gibt es je nach Partikelgröße Grenzwerte. An Orten, wo Grenzwerte über längere Zeit deutlich überschritten werden, drohen zum Beispiel Fahrverbote für Autos mit besonders hohem Schadstoffausstoß.
Experten haben berechnet, dass Tausende Menschen vorzeitig an Folgen von Luftverschmutzung sterben – laut Umweltbundesamt im Jahr 2014 etwa 6.000 an Herz-Kreislauf-Krankheiten, die auf die Langzeitbelastung mit Stickstoffdioxid zurückzuführen seien. Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur EEA aus dem Jahr 2017 gibt es in Deutschland zudem rund 66.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr durch die Folgen von Feinstaub in der Luft.
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