One Health: Ethikrat diskutiert neues, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit

Berlin – Die globale Gesunderhaltung von Menschen, Tieren und der Umwelt sind eng miteinander verbunden. Das betonten gestern die Teilnehmenden der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates in Berlin mehrfach. Dabei lenkten sie das Augenmerk auf den zunehmend wissenschaftlich und gesellschaftlich diskutierten One-Health-Ansatz.
Angesichts aktueller Krisen forderten sie kollaboratives und interdisziplinäres Denken und Handeln in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Grenzen zwischen Ländern und Forschungsdisziplinen müssten überwunden und Gesundheit ganzheitlich verstanden werden.
„Wir können unsere Gesundheit nicht isoliert als medizinisches Behandlungsproblem betrachten“, sagte Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. „Vielmehr sollten wir Gesundheit zunehmend holistisch – als integrale Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt – verstehen.“ Dazu müsse das Thema der Öffentlichkeit nähergebracht werden.
Dass dies notwendig ist, verdeutlichten viele Beispiele, so der interdisziplinär besetzte Rat. Jüngst erst habe die COVID-19-Pandemie die Gefahr von Zoonosen und die Bedeutung globaler Vernetzung gezeigt. Aber auch die Auswirkungen der Umwelt auf die Gesundheit drohe mittlerweile der Klimawandel zu verschärfen. Mit der Klimakrise würden die komplexen Zusammenhänge zwischen ökologischer, tierischer und menschlicher Gesundheit überdeutlich.
Zwar habe die COVID-19-Pandemie nochmals die enge Verbindung zwischen Mensch, Tier und der gemeinsamen Umwelt unterstrichen und die Bedeutung eines holistischen One-Health-Ansatzes hervorgehoben, sagte Andreas Reis von der Weltgesundheitsorganisation. Doch sei der One-Health-Ansatz nicht neu. Die WHO beschäftige sich seit 2008 und dem Aufkommen der Vogelgrippe damit. „Aus internationaler Perspektive ergibt sich die Notwendigkeit, sektoren- und länderübergreifend die hochkomplexen Problemstellungen zu bearbeiten“, betonte er.
Entsprechend habe das internationale Beratungsgremium „One Health High Level Expert Panel (OHHLEP)“ der WHO hat im Dezember 2021 eine operationelle Definition von One Health erarbeitet, um ein besseres Verständnis des One-Health-Ansatzes zu etablieren. Im Zentrum stehe dabei die interdisziplinäre und intersektorale Zusammenarbeit und die Etablierung der Initiative. Deutschland sei sehr engagiert bei diesem Thema, bestätigte Reis. Dies sei auch beim WHO-Pandemievertrag deutlich geworden.
BMG bekräftigt Engagement
Den Willen der Bundesregierung, sich bei diesem Thema zu engagieren, bekräftigte Ute Teichert aus dem Bundesgesundheitsministerium. Ein One-Health-Ansatz umfasse nicht nur ein ressortübergreifendes Denken, sondern diene auch der Gestaltung neuer Wege in Strukturen und Verwaltung, sagte die Fachärztin für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Insbesondere nach der Pandemie und im Kontext des Klimawandels werde One Health im Gesundheitssektor präsenter werden.
So hätten sich bereits sechs Bundesministerien zusammengeschlossen, um den One-Health-Ansatz in der Gesundheitsforschung zu stärken. Der gemeinsamen Forschungsvereinbarung zufolge soll eine Weiterentwicklung der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen zu einer Forschungsplattform für One Health eingeleitet werden.
One Health sei ein holistischer Denkansatz und bilde eine gemeinsame Grundlage, um die Herausforderungen unserer Zeit besser zu verstehen, Gesundheitsrisiken zu mindern und zukunftsweisende Lösungswege zu beschreiten, so Teichert. „Es geht um unsere eigene Existenz“. Die Berücksichtigung gegenseitiger Abhängigkeiten der Gesundheit von Menschen, Tieren und Ökosystemen führe zu einer „Ent-Siloisierung“ von zuvor traditionell abgegrenzten Bereichen. „Wir brauchen die Transformation unserer Gesellschaft im Sinne eines nachhaltigen Gesundheitsschutzes“, sagte sie. Dazu sei der One-Health-Ansatz gut geeignet.
Ärztekammer Bayern unterstützt Forderungen
Eine Transformation und ein Umdenken sowie verändertes Handeln auch im ärztlichen Alltag, forderte Gerald Quitterer, Präsident der Bayrischen Landesärztekammer. Der One-Health-Ansatz müsse den Gesundheitssektor vorrangig und verstärkt beeinflussen, meinte der praktizierende Hausarzt. Auch in der Praxis müssten die Patientinnen und Patienten von ihren Ärztinnen und Ärzten bei diesem Ansatz „abgeholt“ werden.
„Unsere Gesundheit hängt mit der des Planeten zusammen“, betonte Quitterer. Das zeige die jüngste Pandemie, die Gefahr zunehmender Infektionskrankheiten und die Klimakrise. Dadurch rückten die Begriffe One Health oder Planetary Health zunehmend ins Bewusstsein der Bevölkerung. „Dieses Bewusstsein muss bis in die Arztpraxis getragen und Thema in der Beratung von Patientinnen und Patienten werden.“
Schon die Berufsordnung von Ärztinnen und Ärzten verpflichtet diese, sich für den Erhalt der für die Gesundheit wichtigen Lebensgrundlagen einzusetzen, erläuterte der Arzt. „Wir alle sind nicht nur für uns, sondern auch für die Gesundheit von Mensch, Tier und Natur verantwortlich, weltweit. Die Klimakrise ist eine weitere Herausforderung, der wir uns nur unter dem Aspekt von One und Planetary Health stellen können.“ Dazu brauche es aber richtige politische Anreize sowie Information und Aufklärung, aber auch den Mut, gemeinsam etwas zu bewegen. „All das ist von dem Gedanken getragen, dass wir nachhaltig mit allen Ressourcen des Lebens umgehen müssen.“
Dass dies für behinderte Menschen nicht immer einfach sei, erläuterte Andrea Corinna Schöne. Sie wies darauf hin, dass behinderte Menschen einerseits von den Folgen des Klimawandels ganz besonders bedroht seien, andererseits in Debatten rund um Klimagerechtigkeit kaum bis gar nicht beachtet würden. Dies sei der Fall, wenn es um Hitzeschutzpläne oder um ein erhöhtes Bedürfnis nach Wärme oder einer Notwendigkeit der Nutzung von Plastikutensilien ginge.
Generell waren sich im Laufe der Ethikrat-Jahrestagung die Ratsmitglieder einig, dass der One-Health-Ansatz, der jetzt in verschiedenen Disziplinen zunehmend verfolgt wird, sehr vielversprechend ist. Allerdings blieb heute bei der Debatte offen, wie die verschiedenen Aspekte tatsächlich zusammengedacht werden und Kooperationen am besten gelingen können. „One Health erscheint zunächst als ein vielversprechender Ansatz, um auf multiple Krisen unserer Zeit zu antworten“, sagte Annette Riedel, Mitglied des Deutschen Ethikrates. „Er birgt möglicherweise aber auch die Gefahr, dass nötige Differenzierungen verloren gehen“, warnte sie.
Den One-Health-Ansatz als komplexen statt als holistischen Ansatz anzusehen, forderte deshalb Gesa Lindemann, Soziologin aus Oldenburg. Normativ habe der Mensch zwar keine hervorgehobene Stellung in diesem Ansatz, performativ bilde der Mensch jedoch das Zentrum des One-Health-Ansatzes.
Daher müssten sehr viele verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, beispielsweise auch ein verändertes Selbstverständnis des Menschen über die Jahrhunderte sowie kulturelle Unterschiede, so Lindemann. Sie sei überzeugt: ohne einen funktionierenden Staat und eine funktionierende Gesundheitsverwaltung könne der One-Health-Ansatz nicht funktionieren. Wenn keine Interdisziplinarität gefordert sei, würde sich Wissenschaft hauptsächlich im eigenen Gebiet bewegen.
„Wie wir One Health verstehen, beeinflusst die Forschung, begründet ethische Ansprüche und hat ganz praktische Konsequenzen für die Politik“, meinte auch Frauke Rostalski, Mitglied des Deutschen Ethikrates, und verwies auf die interdisziplinären Diskussionen innerhalb der Jahrestagung.
Ausgehend von Initiativen der zoonotischen Infektionsforschung in den 2000er-Jahren gewinne das One-Health-Paradigma zunehmend an Bedeutung in der biomedizinischen Forschung, der Epidemiologie sowie auch in konkreten Versorgungs- und Public-Health-Kontexten, sagte Sabine Salloch, Ärztin und Medizinethikerin aus Hannover. Auch für die Medizinethik gewinne das Thema an Bedeutung. „Es verschleiert aber auch Zielkonflikte“, warnte sie. Einige praxisrelevante medizintheoretische und -ethische Aspekte blieben bisher weitgehend unterbelichtet. „Sie sind aber wichtig und hilfreich – auch wenn der Begriff ‚One Health‘ schwammig ist.“
Den One-Health-Ansatz zum Anlass zu nehmen, den Horizont über das Wohl der Menschen hinaus zu erweitern, forderte Johann Ach vom Zentrum für Bioethik an der Universität Münster. Neben der Gesundheit von Menschen müsse auch die Gesundheit von Tieren ernst genommen werden. Da Mensch und Tier den gleichen Planeten bewohnten, sei es schwer zu begründen, warum beide so unterschiedlich behandelt würden. „Für die Tierethik ist der One-Health-Ansatz ein wichtiges Tool“, sagte er. „Wenn wir sehen, dass Tierhaltung mit einem großen Verlust an Tiergesundheit einhergeht, ist das ein Anlass, über Tierhaltung nachzudenken.
Auch die Erkenntnis, dass Pandemien ein relativ vorhersehbares Ergebnis menschlichen Handelns seien, verlange nach einem doppelten Paradigmenwechsel, so Ach. Erstens müsse One Health der Einsicht Rechnung tragen, dass es bei der Übertragung von Krankheiten um mehr gehe als nur um Krankheitserreger und biologische Mechanismen. Zweitens sei eine neue ethische Ausrichtung von One Health erforderlich: Es gebe keinen Grund, der es rechtfertigen würde, Gesundheitsrisiken für Tiere als bloß indirekt bedeutsam anzusehen.
Aus Sicht der Umweltethik biete das One-Health-Konzept einige Vorteile, weise aber auch problematische Unschärfen auf, sagte Christian Baatz, Klimaethiker der Universität Kiel. „Der Begriff muss geschärft werden“, forderte er. Unpräzise sei momentan, welche Elemente „der Umwelt“ Gesundheitsschutz verdienten und aus welchem Grund ihre Gesundheit von Belang sei. Es sei unklar, ob sie geschützt werden sollten, weil sie für andere wichtig seien oder um ihrer selbst willen.
Eine Stärke des Konzepts sieht Baatz jedoch darin, dass „One“ als auf drei Ebenen verweisend interpretiert werden könne: Raum, Zeit und biologische Artzugehörigkeit. Sie zusammenzudenken sei für einen verbesserten Gesundheits-, Tier- und Umweltschutz von großer Bedeutung, so der Klimaethiker.
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