Pläne für Notfallversorgung stoßen weiter auf harte Kritik
Berlin – Die Vorschläge zur Notfallreform haben viele Ärzte, Verbände und Fachgesellschaften aufgeschreckt. Die Debatte, die direkt nach Vorstellung der Pläne begonnen hatte, gewinnt immer weiter an Fahrt. Viel zu theoretisch und zu wenig praktisch gedacht, lautete die Kritik auch gestern und heute.
Die Empfehlungen der Regierungskommission sehen im Kern die Einrichtung Integrierter Leitstellen (ILS) sowie Integrierter Notfallzentren (INZ) an allen bundesweit 260 Kliniken der erweiterten Notfallversorgung 2 und 160 Krankenhäusern der Stufe 3 (umfassende Notfallversorgung) vor. In den Zentren sollen Notdienstpraxen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) angesiedelt und besetzt werden.
Die Öffnungszeiten der Notdienstpraxen sollten in der Notfallstufe 2 mindestens von Montag bis Freitag von 14 Uhr bis 22 Uhr sowie am Wochenende oder an Feiertagen von 9 bis 21 Uhr liegen. In den Krankenhäusern der Stufe 3 sind die Notdienstpraxen 24/7 zu betreiben.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fand heute deutliche Worte. „Bereitschaftsdienstpraxen sollen ja beispielsweise werktags von 14 bis 22 Uhr durch Niedergelassene besetzt sein. Sollen dann die Niedergelassenen ihre Praxen zumachen und in der Notfallpraxis sitzen?“, fragte KBV-Chef Andreas Gassen.
Für ihn zeige sich in dem Reformvorschlag „die Unkenntnis der Kommissionsmitglieder über die Versorgungssituation im ambulanten Bereich“. Diese versorge in den normalen Praxiszeiten mehr als 600 Millionen Fälle, denen rund 20 Millionen Fälle gegenüberstünden, die die Krankenhäuser im Notdienst behandelten und von denen ein erheblicher Teil gar keine Notfälle seien.
Gassen führte aus, es erschließe sich ihm zudem nicht, mit welchem ärztlichen und nicht ärztlichen Personal im Krankenhaus die Vorschläge umgesetzt werden sollten. „Und wenn die DKG meint, die Krankenhäuser könnten bei der schwierigen Personalsituation in den Häusern, die bereits die klassische stationäre Versorgung gefährdet, neben der gesamten Notfallversorgung auch noch die ambulante Versorgung übernehmen, fragt man sich schon , ob die Aussagen ernst gemeint oder der närrischen Jahreszeit geschuldet sind.“
„Die Regelung, dass der Tresen vom Krankenhaus geführt wird, wenn man sich nicht einigt, birgt auch eine große Gefahr“, sagte zudem KBV-Vize Stephan Hofmeister. Denn die Kolleginnen und Kollegen würden dann sozialversicherungspflichtig werden. „Dann sind die Niedergelassenen ganz raus, denn da das Krankenhaus in diesem Fall Träger ist, müssten diese angestellt werden. Das wird weder jemand wollen noch können.“
Die stellvertretende Vorsitzende des Hartmannbundes, Anke Lesinski-Schiedat, mahnte grundsätzlich Eile an. „Die Tatsache, dass bereits seit 2020 ein – damals auf Basis einer Empfehlung des Sachverständigenrates Gesundheit entstandener – Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung ungenutzt in den Schubladen des Gesundheitsministeriums (BMG) schlummert, sollte Mahnung genug sein“, so Lesinski-Schiedat.
Wenn man sich einig sei, dass es im Bereich der Krankenhausstrukturen tiefgreifender Veränderungen bedürfe, um diese zukunftsfähig zu machen, dann gelte das im Übrigen möglicherweise auch für die Notfallversorgung. So könne man angesichts der komplexen Strukturen sowie mit Blick auf die Notwendigkeit eines klaren Finanzierungskonzeptes am Ende vielleicht auch zu der Überlegung gelangen, ob die Notfallversorgung nicht sinnvollerweise in einen eigenen „Sektor“ überführt werden solle.
In keinem Fall aber sei man auf dem richtigen Weg, wenn man – wie im Entwurf vorgesehen – Notdienstpraxen zu Zeiten besetzen wolle, zu denen Notfallpatienten problemlos über die normalen Sprechstundenzeiten der Praxen betreut werden könnten.
Das sei ineffektiv und vergeude wichtige finanzielle und personelle Ressourcen. „Wenn die politischen Entscheider sich endlich entschließen können, die Akteure der Sektoren in die Beratungen zur Reform angemessen einzubeziehen, dann werden sie schnell auf diese und wohlmöglich weitere Schwachstellen des Reformprojektes stoßen“, so Lesinski-Schiedat.
Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen, wies darauf hin, dass bereits seit März 2022 in dem hessischen Modellprojekt „Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung“ neue Strukturen zur Notfallversorgung gelebte Realität seien.
Während die enge Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor sowie den zentralen Leitstellen des Rettungsdiensts in dem hessischen Projekt sicherstelle, dass Patienten genau die Versorgung erhielten, die im jeweiligen Einzelfall notwendig sei, setze die von Lauterbach präsentierte Reform auf den Aufbau sogenannter integrierter Notfallzentren und zusätzlicher Leitstellen. „Dass die vor gut einem Jahr nicht umsetzbaren und deshalb „beerdigten“ INZ wieder reanimiert werden sollen, zeigt deutlich die Praxisferne der Vorschläge.“
Kassenärztliche Vereinigungen mit vielen Kritikpunkten
Auch der Vorstand der KV Niedersachsen (KVN) hat die Empfehlungen der Regierungskommission scharf kritisiert. KVN-Vorstandsvorsitzender Mark Barjenbruch nannte die Empfehlungen „einen untauglichen Reformvorschlag“.
Grundsätzlich hält die KVN eine Neuordnung der Notfall- und Akutversorgung für angezeigt. Diese dürfe aber nicht allein auf eine Entlastung der stationären Strukturen in den Krankenhäusern zulasten der Vertragsärzte abzielen. Eine ausschließliche Steuerung der Bürger über integrierte Leitstellen sei „realitätsfremd“. „Patienten gehen direkt in die Notfallambulanzen der Krankenhäuser und rufen vorher nicht die Leitstellen an, um sich in eine Versorgungsebene steuern zu lassen“, sagte Barjenbruch.
Integrierte Notfallzentren in Krankenhäusern mit ausgeweiteten Öffnungszeiten würden dazu führen, dass niedergelassene Ärzte in Städten in INZ arbeiteten und nicht mehr als Vertragsärzte in der Fläche zur Verfügung stünden, sagte der stellvertretende KVN-Vorstandsvorsitzende, Thorsten Schmidt.
Die geplante Besetzung der INZ mit Hausärzten, Internisten, Chirurgen und Anästhesisten gehe zulasten der regulären Basisversorgung und werde zu längeren Wartezeiten in der Praxen führen, die dann wiederum eine höhere Inanspruchnahme der INZ nach sich zögen. Die Nachfrage in den INZ werde quasi selbst produziert.
Die KV Rheinland-Pfalz (KV RLP) forderte ebenfalls weitreichende Nachbesserungen – die Maßnahmen müssten viel stärker an die Realität in den Praxen angepasst werden. Die Empfehlungen der Regierungskommission berücksichtigen zu wenig den voranschreitenden Ärzte- und Fachkräftemangel. Gleichzeitig wies die KV auf ungeklärte Finanzierungsfragen hin und warnte davor, dass ineffektive Doppelstrukturen entstünden.
Die KV bemängelt, dass bei der Entwicklung dieses Models die Expertise und die Erfahrung der ambulanten Versorgung nicht ausreichend berücksichtigt wurde und eine praktische Umsetzung massive personelle Herausforderungen mit sich bringen würde. Die damit verbundenen, zusätzlichen Belastungen könnten auf den medizinischen Nachwuchs abschreckend wirken. Die Entscheidung für eine Niederlassung könne dadurch weiter an Attraktivität verlieren, hieß es.
Realitätsfern, unfinanzierbar und komplett mit der stationären Brille gedacht, so bewertet die KV Berlin die vorgelegte Empfehlung. „Man merkt diesem Papier von der ersten bis zur letzten Seite an, dass es von Vertretern der Krankenhauslandschaft und ohne ausreichende Kompetenz der ambulanten Versorgung geschrieben wurde. Damit schießt die Kommission komplett über das Ziel hinaus“, hieß es vom Vorstand der KV.
„Umso tiefer wir in die Vorschläge und damit verbundenen Konsequenzen für die ambulante Versorgung einsteigen, umso deutlicher müssen wir werden: Mit der Neuordnung der Notfallversorgung, ohne dass Vertreter beider Seiten am Reformtisch sitzen, überschätzt sich der Gesetzgeber.“ Die Liste der Punkte, mit denen die KV Berlin massive Bauchschmerzen hat, ist lang.
Mit der vorgeschlagenen Ausweitung des Sicherstellungsauftrags in der ambulanten Notfallversorgung würden etwa Doppelstrukturen geschaffen. Es werde in keiner Weise berücksichtigt, dass Notfallbehandlungen in Haus- und Facharztpraxen zum täglichen Geschäft gehörten und – ganz aktuell – das System des TSS-Akutfalls eingeführt werde.
Die Vorschläge zur Reduzierung der Wartezeiten bei der 116 117 und der Einrichtung einer 24/7 erreichbaren allgemeinärztlichen und kinderärztlichen telemedizinischen Beratung seien „realitätsfremd“. Gleiches gelte für den Vorschlag, Dolmetscherangebote und Botendienste für Arzneimittel vorzuhalten.
DGINA begrüßt Empfehlungen
Die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) begrüßte hingegen die Vorschläge. „Werden die Empfehlungen umgesetzt, kann sich die Notfallversorgung entscheidend verbessern“, sagte DGINA-Präsident Martin Pin. Die geplanten Integrierten Leitstellen (ILS), die Hilfesuchende telefonisch und telemedizinisch beraten, könnten eine sichere und attraktive erste Anlaufstelle im medizinischen Notfall werden.
„Durch den deutlich umfassenderen Auftrag der ILS im Vergleich zum Notruf – vor allem mit Terminvermittlungen und weiteren Diensten – wird der Sicherstellungsauftrag der KV in Bezug auf den Notdienst erfüllt“, ergänzte Pin. Die DGINA fordert in diesem Zusammenhang, dass der Kontakt zu einer Integrierten Leitstelle für alle Hilfesuchenden und Notfallpatienten verpflichtend wird.
Auch der zweite wichtige Baustein der Empfehlungen, die Einführung von Integrierten Notfallzentren (INZ) bestehend aus der Notaufnahme, einer KV-Notdienstpraxis und einem gemeinsamen Tresen, wird von der DGINA positiv bewertet. Besonders betonte Pin die explizite Empfehlung, die Facharztspezialisierung für Notfallmedizin einzuführen.
Nach Ansicht der DGINA können die Vorschläge der Regierungskommission auch dazu beitragen, die Aufgabenverteilung der Notfallversorgung neu zu ordnen und die bestehenden Schwierigkeiten mit den Sektorengrenzen zwischen ambulant und stationär zu überwinden.
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