Lauterbach will Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten

Berlin – Die Bundesregierung will die Notfallversorgung reformieren. Künftig sollen Patienten im Notfall durch neue Leitstellen und Notfallzentren versorgt werden. Das sehen Empfehlungen der Regierungskommission Krankenhaus vor, die der Koordinator der Runde, Tom Bschor heute gemeinsam mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgestellt hat.
Es handelt sich dabei um die vierte Empfehlung der Expertenkommission, die bereits Vorschläge zur Reformierung der Pädiatrie, der Geburtshilfe sowie der Einrichtung von tagesstationären Behandlungen und zu einer grundlegenden Krankenhausreform vorgelegt hat.
In der Notfallversorgung gebe es seit vielen Jahren strukturelle Probleme, betonte Lauterbach. Viele Menschen suchten die Notaufnahmen auf, wenn sie etwa keine Arzttermine bekommen. Die Notaufnahmen seien deshalb massiv überfüllt. „Dort fehlt das Personal und dort werden viele Patienten behandelt, die niederschwellig in den Praxen versorgt werden könnten oder im Notfalldienst der Kassenärztlichen Vereinigungen“, sagte Lauterbach.
Die Gesamtzahl der behandelten Notfallpatienten – durch den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) sowie den Notaufnahmen der Krankenhäuser – sei von 24,9 Millionen im Jahr 2009 auf 27,8 Millionen Menschen im Jahr 2019 gestiegen (plus zwölf Prozent).
Die behandelten Fälle in den Krankenhäusern seien von 14,9 Millionen auf 19,1 Millionen im gleichen Zeitraum gestiegen (plus 28 Prozent), schreibt auch die Regierungskommission in ihrer heute veröffentlichten Stellungnahme.
„Wir brauchen eine kluge Steuerung der Patienten auf zwei unterschiedlichen Ebenen“, kündigte Bschor an. Bei der Notfallversorgung dürfe es keine Barrieren geben, die etwa aufgrund des Alters, Geschlechts, Bildung oder Migrationshintergrund daran hinderten, angemessen versorgt zu werden.
„Die Patientinnen und Patienten definieren den Notfall für sich selbst und benötigen in dieser persönlichen Ausnahmesituation unmittelbare und individuelle Hilfe“, erklärte er weiter. Das heiße, das System bestimme die Reaktion auf diesen Notfall.
Integrierte Leitstelle soll Patientenströme lenken
Zunächst sieht die Regierungskommission die Einrichtung von integrierten Leitstellen (ILS) vor. Diese sollen die beiden Notrufnummern 112 und 116117 zusammenführen.
Entweder sollen die Anrufe über die beiden Nummern in der gleichen Leitstelle einlaufen oder getrennte Leitstellen sollen durch feste Strukturen miteinander verbunden sein, sodass ein Rückgriff auf die Strukturen und Ressourcen der jeweils anderen Leitstelle möglich ist. Diese Entscheidung soll in den Bundesländern je nach bereits vorhandenen Strukturen getroffen werden.
Hilfesuchende werden durch die ILS nach telefonischer oder telemedizinischer Ersteinschätzung der für sie am besten geeignete Notfallstruktur zugewiesen. Die Ersteinschätzung soll dabei mithilfe eines standardisierten, softwaregestützten Ersteinschätzungsinstruments vorgenommen werden.
Durch die Ersteinschätzung wird der Hilfebedarf und damit das geeignete Versorgungsangebot ermittelt. Die Leitstelle soll dabei künftig direkt telemedizinische Beratungen, Verordnungen von Notfallmedikamenten, einen verbindlichen Termin bei einer regulären Arztpraxis, einer KV-Notdienstpraxis oder in der Notaufnahme vermitteln.
Zudem sollen damit auch künftig aufsuchende Dienste, insbesondere für immobile Patientinnen und Patienten wie etwa den KV-Bereitschaftsdienst oder die pflegerische Notfallversorgung entsendet werden können. Dieser soll zu einem flächendeckenden 24/7-Angebot ausgebaut werden.
Darüber hinaus soll die Leitstelle auch auf spezielle Dienste wie etwa die ambulante Palliativversorgung, den Akut-Sozialdienst oder den psychosozialen Kriseninterventionsdienst zurückgreifen können.
24/7-Beratung per Videosprechstunde
Die telemedizinische Beratung soll innerhalb von zehn Minuten erreichbar sein und für spezialisierte Fächer, etwa Gynäkologie, Dermatologie oder Augen- und HNO-Heilkunde eingerichtet werden. Dafür werden „hochqualifizierte“ Personen, die gut bezahlt werden müssten, benötigt, so Lauterbach.
Gängige Videotelefonieprogramme wie etwa Skype, WhatsApp, Zoom, Hangouts oder FaceTime sollen eingerichtet werden, um den Zugang so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten. Für nicht ärztlich zu behandelnde Notfälle soll zudem eine wohnortnahe pflegerische Notfallversorgung ermöglicht und aufgebaut werden, sieht der Vorschlag weiter vor.
Die 112 soll nach wie vor unmittelbar sofort erreichbar sein, für die 116117 sollen mehr als 75 Prozent aller Anrufe in maximal drei Minuten, mehr als 95 Prozent aller Anrufe in maximal zehn Minuten durchgestellt werden.
Diese Maßnahme soll verhindern, dass sich Personen aufgrund langer Wartezeiten doch an den Notruf 112 wenden. Die unmittelbare Erreichbarkeit der 116117 gehört zum Sicherstellungsauftrag der KVen. „Geeignete Kontroll- und – bei Überschreiten der Wartezeitvorgaben Sanktionsmechanismen sind einzuführen“, schreibt die Kommission zudem.
Die ILS müssten „so vorteilhaft und attraktiv sein, dass für die Bevölkerung ein großer Anreiz besteht, sich in einem medizinischen Notfall primär an die ILS zu wenden“, heißt es weiter.
Notfallzentren sollen Arztpraxis und Krankenhausnotaufnahme verbinden
Das zweite Standbein sollen integrierte Notfallzenten (INZ) werden, die im Krankenhaus aufgebaut sein sollen, erklärte Bschor. Integriert bedeutet, dass es eine Notaufnahme des Krankenhauses sowie eine KV-Notdienstpraxis gibt, die direkt am Krankenhaus eine gemeinsame zentrale Ersteinschätzungsstelle haben.
Über die Verantwortlichkeit soll eine Einigung zwischen zuständiger KV und Krankenhaus erfolgen. „Kommt keine Einigung zustande, leitet das Krankenhaus das INZ“, heißt es im Vorschlag. Die INZ sollen in allen Krankenhäusern der erweiterten Notfallversorgung (Stufe 2; rund 260 Krankenhäuser in Deutschland) und umfassenden Notfallversorgung (Stufe 3; etwa 160) aufgebaut werden.
Wo regional erforderlich, werde ein integriertes Notfallzentrum auch an Krankenhäusern der Basisnotfallversorgung eingerichtet, heißt es weiter in der Stellungnahme. Eine Alternative sei zudem ein 24/7-medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) mit telemedizinischer Anbindung an ein INZ.
An Standorten der Kinderkliniken, die die Voraussetzung des Moduls Notfallversorgung Kinder erfüllen (etwa 290 Krankenhäuser), sollen integrierte Notfallzentren für Kinder und Jugendliche (KINZ) aufgebaut werden.
Die KV-Notdienstpraxen sollen bestenfalls mindestens zwei geeignete Räume des Krankenhauses zur Miete oder in anderweitiger Form zur Verfügung gestellt bekommen. Alternativ sollen sie sich in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses ansiedeln.
Sie dürfen die diagnostischen Möglichkeiten des Krankenhauses nutzen, müssen aber selbst EKGs ableiten und Blutentnahmen durchführen können. Personell sollten sie mit mindestens einem Arzt oder einer Ärztin der Fachrichtungen Innere Medizin, Chirurgie, Allgemeinmedizin, Anästhesie oder über eine Weiterqualifikation in Notfallmedizin besetzt sein sowie einer medizinischen Fachangestellten oder Pflegefachperson.
Öffnungszeiten der Notdienstpraxen
Die Öffnungszeiten der Notdienstpraxen sollten in der Notfallstufe 2 mindestens von Montag bis Freitag von 14 Uhr bis 22 Uhr sowie am Wochenende oder an Feiertagen von 9 bis 21 Uhr liegen. In den Krankenhäusern der Stufe 3 sind die Notdienstpraxen 24/7 zu betreiben, sieht der Vorschlag der Regierungskommission vor.
Die Finanzierung der Notdienstpraxen ist entweder über den Sicherstellungsauftrag des KV-Systems und damit aus KV-Mitteln zu organisieren oder im Rahmen einer grundlegenden Reform des Vergütungssystems über einen gemeinsamen Finanzierungstopf von KV-Praxen und Notaufnahmen.
Vorgesehen sind der Regierungskommission zufolge auch Sanktionen, beziehungsweise Ausgleichszahlungen der jeweiligen KV für jeden Tag, an dem die Notdienstpraxis nicht öffnen kann oder nicht oder nur unzureichend besetzt ist oder anderweitige Qualitätsstandards nicht erfüllen kann.
Auch die Notaufnahme müssen eine Ausgleichszahlung für jede Stunde leisten, in der eine Notaufnahme die Facharzterreichbarkeit nach Kriterien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) nicht erfüllen kann oder sich von der Annahme von Hilfesuchenden abmeldet.
Eine Reform der Notfallversorgung wurde in der Vergangenheit immer wieder geplant, zuletzt auch von der ehemaligen Bundesregierung und Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Hiernach sollte der G-BA etwa über eine Neustrukturierung des Ersteinschätzungsverfahren entscheiden. Diese Reform wurde im vergangenen Sommer vom BMG allerdings um ein Jahr verschoben. Grund dafür war die grundlegende Krankenhausreform, mit der die Notfallreform gemeinsam angegangen werden sollte.
Die Vorschläge der Kommission sollen in der Bund-Länder-Runde zur grundlegenden Krankenhausreform diskutiert und beraten werden, erklärte heute Lauterbach. Das nächste Treffen der Runde ist für Ende Februar anberaumt.
Die Reform der Notfallversorgung solle dann in dieser Legislaturperiode (bis 2025) schon wirken, kündigte der Gesundheitsminister an. Zum Vergleich, die Krankenhausreform soll bereits ab Anfang 2024 in Kraft treten.
Kritik am Vorschlag der Regierungskommission äußerte insbesondere die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Vor allem die Krankenkassen dagegen begrüßten den heute vorgelegten Vorstoß.
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