Prävention und mehr Personal gegen Fachkräftemangel

Berlin – In Deutschland herrscht im Gesundheitswesen ein Paradox. Zwar gibt es jedes Jahr mehr Vollkräfte im pflegerischen und ärztlichen Bereich, dennoch gibt es einen enormen Personalmangel im Krankenhaus und niedergelassenen Bereich. Das betonte der Gesundheitsökonom Boris Augurzky gestern bei der 29. Plattform Gesundheit der gemeinsamen Vertretung der Innungskrankenkassen (IKK). Augurzky ist Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ am RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Mitglied der Regierungskommission Krankenhaus.
Die Produktivität je ärztlicher Vollkraft sei seit der COVID-19-Pandemie stark rückläufig, so Augurzky. So seien die Case Mix Punkte je ärztliche Vollkraft in den Krankenhäusern deutlich gesunken in den letzten Jahren. Dies erkläre das Mysterium, dass es zwar in absoluten Zahlen mehr Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern gebe, aber auf der anderen Seite Personalmangel beklagt werde.
Problematisch werde es in den kommenden Jahren, wenn die geburtenstarke Generation der Babyboomer nach und nach in Rente gehen. Rund 1,8 Personen werden aus dem Arbeitsmarkt rausgehen und nur noch 1,0 Personen kommen dafür nach, so Augurzky. Die nachkommenden Generationen werden aber nicht doppelt so viel arbeiten, sondern tendenziell weniger, sagte er mit dem Hinweis auf die vermehrte Teilzeittätigkeit auch unter Ärztinnen und Ärzten.
Er geht deshalb davon aus, dass in Zukunft im Gesundheitssystem nicht mehr alle Leistungen in gewohnter Weise bereitgestellt werden können. Um dagegen zu wirken, gebe es viele Maßnahmen. Augurzky forderte zudem, dass jede Reform, die im Gesundheitssystem anstehe auf die Frage hin überprüft werden solle, ob diese helfe, den Personalmangel zu reduzieren. Wenn die Frage mit nein beantwortet werde, sollte man nochmal überdenken, ob die Reform in dieser Form Sinn ergebe.
Es gebe aber zwei Hebel, um den Fachkräftemangel einzudämmen. Einerseits sei es wichtig, das Angebot an Fachkräften zu erhöhen und andererseits die Belastung des Gesundheitswesens etwa durch Prävention zu reduzieren.
Bei der Angebotsseite sei es wichtig, die Arbeitskräfte in Teilzeit dazu zu bewegen, mehr Stunden zu arbeiten und dem Teilzeittrend entgegenzuwirken. Dazu müsste man sich vor allem überlegen, wie der Arbeitseinsatz flexibilisiert werden könne. Je größer der Standort sei, desto besser ließe sich dies organisieren.
Zudem bilde Zuwanderung einen wichtigen Punkt. Hier geht es aber nicht nur darum, Zuwanderer aus dem Ausland zu finden, sondern auch die Strukturen in Deutschland so zu gestalten, dass die Personen etwa bei der Anerkennung entsprechend betreut werden können. „Wenn das ewig dauert, dann sind sie wieder weg“, erklärte Augurzky.
Er warnte davor, europäische Arbeitskräfte nach Deutschland zu locken. Denn alle europäischen Länder hätten mehr oder weniger ebenfalls kaum oder keinen Überschuss an jungen Menschen. Weltweit gebe es aber Länder mit einem solchen Überschuss. In Indien gebe es etwa 322 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren. In Nigeria seien 50 Prozent der Bevölkerung unter 17 Jahre alt und es gebe eher Arbeitslosigkeit, so Augurzky. Dort leben rund 213 Millionen Menschen.
Auf der anderen Seite, bei der Reduktion der Nachfrage, müssten moderne Technologien eingesetzt werden, wo es geht, betonte der Gesundheitsökonom. Digitalisierung und Telemedizin könnten hierbei unterstützen. Insbesondere im ländlichen Bereich brauche es nicht immer eine ärztliche Fachkraft. Zudem müssten Mengenanreize im Krankenhaus abgeschwächt und mehr Leistungen ambulant statt stationär erbracht werden. Eine gute Patientensteuerung werde zudem benötigt, damit diese in die richtigen Versorgungsbereiche kommen. Hierzu liegen bereits Vorschläge auf dem Tisch. Augurzky erwähnte die integrierte Leitstelle, die mit der geplanten Notfallreform flächendeckend kommen soll.
Auch der Leiter der Abteilung 2 Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium (BMG), Michael Weller, betonte, dass jetzt die Hausaufgaben gemacht werden müssten, um den größer werdenden Fachkräftemangel zu bewältigen. Er wies auf die aktuell laufenden Reformvorhaben, wie etwa die Krankenhaus- oder die Notfallreform hin. Es werde jedoch dauern, bis diese tatsächlich zum Wirken kommen. Es sei „Wahnsinn“, mit welchen langen Vorlaufzeiten das geplant werden müsse. Jahrzehnte seien die Probleme ausgesessen worden, so Weller.
Weitere Gesetzesvorhaben, wie etwa das Pflegekompetenzstärkungsgesetz solle zudem die Pflege stärken und den Beruf attraktiver machen. Zudem solle künftig die Durchführung der ärztlichen Weiterbildung sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich möglich werden.
Er betonte, bis 2030 werden 140.000 Ärztinnen und Ärzte aus dem Beruf ausgeschieden sein, davon 80.000 aus dem vertragsärztlichen Bereich. Auf der anderen Seite sei es nicht einfach, die Zahl der Medizinstudienplätze zu erhöhen. Denn: Junge Ärztinnen und Ärzte strebten nicht mehr alle in den klassischen Arztberuf. „Köpfe sind nicht mehr gleich Arztsitz“, so Weller. Genau diese Faktoren müsste man nachweisen und begründen, um die finanziellen Möglichkeiten zur Erhöhung von Medizinstudienplätzen zu bekommen, sagte er und deutete damit die knappe Haushaltslage des Bundes an.
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