Reformen im Gesundheitswesen: Ärzteschaft will Verantwortung übernehmen

Essen – Die Gesundheitspolitik in Deutschland darf nicht mehr nur Stückwerk sein, vielmehr braucht es eine „ganzheitliche und nachhaltig ausgerichtete Gesundheitspolitik“. In die konzeptionelle Ausgestaltung müssen zudem der medizinisch-fachliche Sachverstand und das Versorgungswissen der Ärzteschaft einbezogen werden. Dafür stimmten die Delegierten des 127. Deutschen Ärztetages in Essen heute im Leitantrag.
Der Tenor des heute verabschiedeten Leitantrags ist ein Appell, Gesundheitspolitik in die großen Fragen der Zeit einzubetten. Die aktuellen Herausforderungen, von Corona über Krieg bis zum Klimawandel, würden deutlich zeigen, dass Gesundheitspolitik „weit über die eigentlichen Regelungsinhalte der Sozialgesetzgebung hinausgehen muss“, heißt es im Beschluss.
Dem lasse sich angesichts der Krisen und Probleme von einer älter werdenden Gesellschaft mit steigendem Versorgungsbedarf über den kostenintensiven medizinische Fortschritt bis zur gesundheitlichen Versorgung von in Deutschland schutzsuchenden Menschen nicht mehr mit Einzelmaßnahmen begegnen.
Aber auch internationale Krisen und ihre Auswirkungen – unter anderem auf die Lieferfähigkeit medizinischer Güter und ganz besonders der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen – würden tiefgreifende Strukturreformen in allen Politikbereichen erfordern, die die gesundheitlichen Belange der Bürgerinnen und Bürger betreffen.
Diese Politikbereiche würden in fast allen Ressorts der Bundesregierung, von der Umwelt-, über die Bau-, Arbeits- und Bildungs- bis zur Verbraucherschutzpolitik, berührt – genau wie die gesundheitlichen Belange der Menschen an sich.
Zwar gebe es bereits die etablierten, ressortbezogenen wissenschaftlichen Gremien der Politikberatung. Es sei jedoch von grundlegender Bedeutung, dass ressortübergreifend auch die Expertise der Akteure aus der Patientenversorgung in alle Gesetzesinitiativen einbezogen werde, die die Gesundheit der Menschen betreffen.
Dazu schlägt der 127. Deutsche Ärztetag im Sinne des Ansatzes „Health in All Policies“ die Einrichtung eines ressortübergreifenden Deutschen Gesundheitsrats unter Beteiligung der Bundesärztekammer (BÄK) und weiterer Vertreter der Selbstverwaltung sowie der Wissenschaft vor. Ähnlich dem Deutschen Ethikrat würde sich der Deutsche Gesundheitsrat proaktiv oder im Auftrag entsprechender Fachressorts in die politischen Prozesse einbringen.
Ganzheitliche Ansätze brauche es auch bei künftigen Reformen innerhalb des Regelungsbereiches des Sozialgesetzbuches 5 (SGB V), von der Ambulantisierung über die sektorenverbindende Versorgung bis zur Reform der Krankenhausplanung und -vergütung.
Krankenhausplanung und -vergütung würden ein durchdachtes und stimmiges Gesamtkonzept bedingen. „Statt einer ausschließlich auf den Krankenhausbereich fokussierten Reform brauchen wir eine umfassende Gesundheitsreform, die überfällige Neuregelungen auch in anderen Versorgungsbereichen beinhaltet und dem Prinzip ambulant vor stationär folgt“, so die Forderung.
Zwar unterstütze die Ärzteschaft das Ziel einer grundlegenden Krankenhausreform. Allerdings brauche es anders als bisher geplant einen „echten Neustart bei der Vergütungssystematik und Investitionsfinanzierung“. Dabei müsse auch die ärztliche Weiterbildung gestärkt werden, bei Bedarf auch durch flächendeckende und sektorenverbindende Weiterbildungsverbünde.
Gleiches gilt für die ambulante Versorgung. Es sei empörend, dass Medizinische Fachangestellte (MFA) im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen keine Würdigung staatlicherseits – beispielsweise eine Bonuszahlung – erhalten hätten. Auch die versprochene Entbudgetierung müsse schnell und umfassend kommen und dürfe nicht auf wenige Arztgruppen beschränkt bleiben. Das dafür erforderliche Honorar müsse zusätzlich zur Verfügung gestellt werden.
Auch die Implementierung neuer Versorgungsangebote neben der funktionierenden ambulanten Versorgung lehnten die Delegierten ab: „Sofern die Etablierung von Gesundheitskiosken oder der Einsatz von Community Health Nurses zu Parallelstrukturen führen, verursachen diese nur weitere Kosten, neue Schnittstellen und tragen nicht zu einer abgestimmten multiprofessionellen Patientenversorgung bei.“
Überfällig sei auch eine Reform der Notfallversorgung. Das künftige System der Akut- und Notfallversorgung müsse stimmige, patientenorientierte und durch Ärztinnen und Ärzte koordinierte verbindliche Versorgungspfade vorgeben. Hier wäre die Schaffung neuer Versorgungsbereiche und Doppelstrukturen ebenfalls kontraproduktiv.
Dafür müsse man dort anderweitig neue Wege gehen: Neben einer effektiven IT-Vernetzung aller Akteure mit definierten Schnittstellen und Datensätzen brauche es verstärkt auf telemedizinische Ansätze sowie ein ärztliches Dispensierrecht im ärztlichen Bereitschaftsdienst.
Erneut forderten die Delegierten auch vom Gesetzgeber, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) vor investorengesteuerter Kommerzialisierung zu bewahren. „Die aus Solidarbeiträgen aufgebrachten Mittel für die Patientenversorgung müssen vor einem Abfluss in internationale Finanzmärkte geschützt werden.“ Deshalb unterstützte das Plenum die von der Bundesärztekammer vorgelegten Regulierungsvorschläge für investorenbetriebene MVZ (iMVZ).
Grundlegende Zustimmung erhielt zwar die Digitalstrategie der Bundesregierung, allerdings bleibe sie bei der konkreten Ausgestaltung zentraler Vorhaben wie der Opt-out-Regelung bei der elektronischen Patientenakte (ePA) zu vage. Die Bundesärztekammer müsse als sektorenverbindende Vertreterin aller Ärzte bei der konkreten Umsetzung stärker umgesetzt werden.
Ein bisher zu wenig beachtetes Problem sehen die Abgeordneten in der mangelnden Aufklärung der Bevölkerung: Bis heute sei der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht über die Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) informiert.
Der Ärztetag fordert deshalb das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit einer breit angelegten Informationskampagne zu beauftragen.
Erneut Druck machten die Delegierten beim Thema Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Bereits vor einem Jahr hatte Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ein vollständiges Konzept für eine neue GOÄ vorgelegt.
Getan hat Lauterbach seither nichts. „Es steht nicht im Belieben des Bundesgesundheitsministers, eine Reform der GOÄ aus ideologischen Gründen zu verweigern. Die Ärzteschaft hat geliefert“, unterstrichen die Delegierten nun. Lauterbach müsse jetzt tätig werden und die Reform der GOÄ unverzüglich einleiten, so die Forderung: „Arbeitsverweigerung ist keine Option.“
Das gilt auch für den Ausbau der Medizinstudienplätze an staatlichen Hochschulen. Die Bundesländer forderten die Delegierten auf, deren Zahl auf bundesweit 6.000 zu erhöhen und das Studium zu modernisieren. Es müsse digitaler, interprofessioneller, vernetzter und praxisnäher ausgerichtet werden.
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