„Der Zugang zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung muss niedrigschwelliger gestaltet werden“
Berlin – Psychische Erkrankungen haben im vergangenen Jahr mehr Fehltage verursacht als jemals zuvor. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt erklärt der ohne Kassenzulassung arbeitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Thomas Högl, warum dies so ist, weshalb er das Vorgehen vieler Krankenkassen im Rahmen der Kostenerstattung nicht nachvollziehen kann und wie die Politik darauf reagieren sollte.

Fünf Fragen an Thomas Högl, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Berlin
DÄ: Wie bewerten Sie das deutsche Gesundheitssystem?
Thomas Högl: Bezogen auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung sind wir in Deutschland im europäischen Vergleich mit hohen Qualitätsstandards und sehr gut ausgebildeten Psychotherapeuten gut aufgestellt. Die bestehenden Standards sind ein hohes Gut, das es zu verteidigen gilt. Wir müssen gut aufpassen, dass es langfristig nicht zu einer Unterwanderung durch Selektivverträge mit Krankenkassen, Anreizsysteme für immer kürzere Psychotherapien oder Onlineangebote als Ersatz für die psychotherapeutische Behandlung kommt, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein großes Problem ist aus meiner Sicht die bestehende Unterversorgung mit ambulanten Therapieplätzen, die bei vielen behandlungsbedürftigen Patienten zu langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz führt.
DÄ: Wie ist die Stimmung bei Ihnen und Ihren Kollegen bezüglich Ihrer Arbeit?
Högl: Die Unsicherheiten der Patienten in Bezug auf das Genehmigungsverfahren spiegeln sich sehr oft im therapeutischen Prozess wider. Dabei sind gerade in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen klare und vorhersehbare Bedingungen wichtige Voraussetzungen für Stabilisierung und Gesundung. Durch den gestiegenen Zeitaufwand und die immer länger werdenden Antragsverfahren in der Kostenerstattung werden zudem massiv Ressourcen verschwendet, die eigentlich in die psychotherapeutische Arbeit fließen sollten, um den Patienten zu helfen. Die Stimmung unter den Kollegen schwankt zwischen Resignation auf der einen und gesundem Trotz und Ansporn auf der anderen Seite, der Kurzsichtigkeit mancher Krankenkassen nicht nachzugeben. Wirkämpfen weiter für das Recht der Patienten auf einen Therapieplatz.
DÄ: Welche drei Aspekte ärgern Sie am meisten am deutschen Gesundheitswesen?
Högl: Trotz der monatelangen Wartezeiten auf einen Therapieplatz lehnen viele Krankenkassen Anträge auf Kostenerstattung für ambulante Psychotherapien sehr oft mit der Begründung ab, es herrsche eine Überversorgung an Psychotherapeuten. Diese Überversorgung bezieht sich allerdings auf statistische Erhebungen aus den 1990er-Jahren und berücksichtigt nicht die seit dieser Zeit stark gestiegenen Patientenzahlen, die unter anderem auch auf einen erhöhten Anstieg depressiver Erkrankungen zurückzuführen sind.
Mir ist der Sinn dieser Ablehnungspraxis der Krankenkassen unklar. Sie sparen dadurch auf Kosten der Gesundheit der Patienten kurzfristig Geld. Langfristig wird eine aufgeschobene Behandlung psychischer Erkrankungen aber deutlich höhere Kosten verursachen, da sich die Symptomatik während der unbehandelten Wartezeit in vielen Fällen bis hin zur Chronifizierung verstärkt. Für viele psychisch erkrankte Menschen stellt die Inanspruchnahme therapeutischer Behandlung einen großen Schritt dar. Wer sich hier noch zusätzlich mit bürokratischem Aufwand und langen Wartezeiten konfrontiert sieht, fühlt sich zu Recht von der Politik alleine gelassen.
Nicht vertretbar sind außerdem die unterschiedliche Behandlung verschiedener Patientengruppen in unserem Gesundheitssystem, wie beispielsweise Privatpatienten oder Geflüchtete, sowie die schlechte Bezahlung von Psychotherapeuten in Ausbildung.
DÄ: Hat sich die Situation aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren verschlechtert?
Högl: Durch den Anstieg psychischer Erkrankungen und die immer restriktivere Vorgehensweise vieler Krankenkassen gegen die Kostenerstattung hat sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Es gab aber sicherlich auch positive Entwicklungen. Die Psychotherapiereform, die im April dieses Jahres in Kraft getreten ist, hat einige Verbesserungen im Bereich der ambulanten Versorgung gebracht. Patienten kommen jetzt beispielsweise über die Sprechstunde schneller an ein persönliches psychotherapeutisches Gespräch. Dadurch kommt es zu einer ersten professionellen Einschätzung ihrer Situation, woraus sich zumeist der Behandlungsbedarf erschließt. Dies stellt für viele Patienten eine Entlastung dar und kann als erste Orientierung dienen. Die Situation der Unterversorgung hat sich dadurch aber eher noch weiter verschärft, da Psychotherapeuten jetzt Teile ihrer Behandlungskapazitäten für Sprechstunden und unbezahlte Telefonzeiten aufwenden müssen.
Besonders ärgerlich ist, dass Krankenkassen die Reform missbrauchen, um Anträge auf Kostenerstattung mit dem Verweis auf Sprechstunde und Akuttherapie abzulehnen. Dabei stellen beide Angebote keinen Ersatz für eine psychotherapeutische Behandlung dar. Aus einer einmaligen Sprechstunde erwächst zudem nicht zwangsläufig ein Anspruch auf Psychotherapie, da der Therapeut in den meisten Fällen keinen freien Therapieplatz zur Verfügung stellen kann.
Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben oftmals nicht die Kraft, ihre Rechte gegenüber den Krankenkassen in einem langwierigen Prozess einzufordern. Sie verzichten dann lieber auf eine notwendige Therapie. Diesen Schritt kann ich als Behandler sehr gut nachvollziehen. Er zeigt aber auch, dass die Politik hier dringend gefordert ist nachzubessern.
DÄ: Welche drei Missstände müssten die Gesundheitspolitiker in der kommenden Legislaturperiode aus Ihrer Sicht am dringendsten angehen?
Högl: Der Zugang für Patienten zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung muss deutlich niedrigschwelliger gestaltet werden. Zudem muss dringend der tatsächliche Bedarf von ambulanter Psychotherapie ermittelt und entsprechend neue Kassensitze geschaffen werden. Nur so können wir eine bessere Versorgung der Patienten ohne monatelange Wartezeit auf einen Therapieplatz gewährleisten. Solange diese Wartezeit weiterhin besteht, muss der Gesetzgeber die Versicherten dabei unterstützen, ihre Ansprüche auf die Kostenerstattung ambulanter Psychotherapie durchzusetzen, wenn die notwendigen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
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