„Es wird bei der Digitalisierungsstrategie ganz besonders wichtig sein, alle relevanten Stakeholder des Gesundheitswesens miteinzubeziehen“
Berlin – Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hat heute ihr diesjähriges Jahresgutachten an die Bundesregierung übergeben. Darin beschäftigt sie sich unter anderem mit der digitalen Transformation im Gesundheitswesen.
Warum sie dieser nicht gerade gute Noten ausstellt, erläutert der Vorsitzende der Expertenkommission, Uwe Cantner, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ).

5 Fragen an Uwe Cantner, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena und seit 2019 Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) der Bundesregierung
DÄ: Herr Professor Cantner, die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist offensichtlich für viele immer noch ein „heißes Eisen“. Klar ist mittlerweile, dass die für Jahresbeginn geplante Einführung des elektronischen Rezepts (e-Rezepts) trotz einer langen Vorbereitungsphase gescheitert ist. Ist dieses Beispiel symptomatisch für weitere Defizite bei der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen?
Cantner: Das kann man so sagen. Erste gesetzliche Regelungen zur Modernisierung und Digitalisierung des Gesundheitswesens wurden in Deutschland bereits 2003 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz angegangen. Darin wurden u. a. die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) sowie der Telematikinfrastruktur beschlossen.
Allerdings verlief die Umsetzung der im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen in der folgenden Dekade schleppend. Um die Digitalisierung (endlich) zu forcieren, wurde 2015 das E-Health-Gesetz verabschiedet, in dem konkrete Fristen für ärztliche Leistungserbringer für die Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) zum 31. August 2018 gesetzt wurden.
Jedoch verhinderten nicht zuletzt gegensätzliche Interessen der Akteure in der Gesellschafterversammlung der gematik in Verbindung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit bei Entscheidungen die Anbindung der ärztlichen Leistungserbringer zu den gesetzten Fristen.
Erst in der vergangenen Legislaturperiode wurden mit dem Terminservice- und Versorgunggesetz, dem Digitale-Versorgung-Gesetz und dem Patientendaten-Schutzgesetz weitere Gesetze verabschiedet, um die digitale Transformation im Gesundheitswesen zu beschleunigen. Deren Wirkungen sind noch abzuwarten.
Doch unabhängig davon gilt ganz generell: Um die digitale Transformation des Gesundheitswesens voranzutreiben, muss nun eine Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitssystem rasch entwickelt und umgesetzt werden. Bei der Erarbeitung und Entwicklung der Strategie wird es ganz besonders wichtig sein, alle relevanten Stakeholder des Gesundheitswesens miteinzubeziehen – das war ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Erfolgsfaktor in anderen Ländern, wie Dänemark oder Österreich.
Ein weiterer zentraler Punkt ist es nach Einschätzung der Expertenkommission, dass eine zentrale Stelle mit möglichst weitreichenden Durchsetzungskompetenzen eingerichtet wird, die die Strategie und deren Umsetzung koordiniert.
DÄ: Trotz der großen Potenziale, die mit der Digitalisierung für die Verbesserung der Versorgung sowie die Weiterentwicklung der medizinischen Forschung verbunden sind, liegt Deutschland im internationalen Vergleich hinter anderen Ländern deutlich zurück. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Cantner: Die Gründe hierfür sind vielschichtig und liegen unter anderem in der Struktur des Gesundheitssystems, Abwägungen und Sorgen bezüglich des Datenschutzes sowie einer noch zu geringen Akzeptanz digitaler Gesundheitsanwendungen sowohl bei Leistungserbringern als auch bei den Patientinnen und Patienten.
So erschwert die heterogene Akteurslandschaft in Verbindung mit verteilten Verantwortlichkeiten, die sich aus dem Selbstverwaltungsprinzip ergeben, die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Darüber hinaus fehlt es in Deutschland an einer Digitalisierungsstrategie.
In anderen europäischen Ländern, wie beispielsweise in Dänemark und Estland, ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens stärker strategisch verankert. In Deutschland existieren zwar einzelne Initiativen wie die Medizininformatik-Initiative, die die Digitalisierung unterstützen sollen, allerdings fehlt bisher eine Gesamtstrategie.
Des Weiteren sind Leistungserbringer bei digitalen Angeboten zögerlich und stehen diesen zum Teil skeptisch gegenüber, wie der DAK-Digitalisierungsreport, der Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde, gezeigt hat. Ohne dass die verschiedenen Akteure des Gesundheitssystems die neuen Technologien und Anwendungen akzeptieren, verstehen und anwenden, ist die Digitalisierung des Systems nicht erfolgreich durchführbar.
DÄ: Sie erwähnten es gerade: Einige Initiativen sind ja in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden, beispielsweise die Telematikinfrastruktur 2.0, die Medizininformatikinitiative und die Konsortien der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur. Wie bewerten Sie diese Ansätze?
Cantner: Diese Ansätze gehen in die richtige Richtung und zielen im Wesentlichen darauf ab, die Förderung der Interoperabilität, des Zugangs zu Daten und des Ausbaus der Dateninfrastruktur zu verbessern. Allerdings bedarf es nach Einschätzung der Expertenkommission Forschung und Innovation, wie bereits angemerkt, einer Gesamtstrategie für die Digitalisierung des Gesundheitssystems, die diese verschiedenen Enden richtig zusammenführt.
Im Rahmen einer derartigen Strategie sollte insbesondere der Etablierung interoperabler Standards ausreichend Raum gegeben werden, um einen effizienten und friktionslosen Austausch von Daten und Informationen zu ermöglichen und die Interoperabilität zwischen IT-Systemen zu gewährleisten.
DÄ: Im Gesundheitswesen besteht – vielleicht mehr als in anderen Bereichen – die Sorge, dass der Datenschutz nicht ausreichend gewährleistet ist. Ist diese Sorge aus Sicht der Kommission berechtigt? Und wie bewerten Sie das im Koalitionsvertrag angekündigte Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten?
Cantner: Da es sich bei Gesundheitsdaten häufig um sensible personenbezogene Daten handelt, besteht im Gesundheitswesen mehr als in anderen Bereichen ein Spannungsverhältnis zwischen IT-Sicherheit und Datenschutz auf der einen und den Potenzialen der Datennutzung auf der anderen Seite.
Der Wahrung des Datenschutzes muss eine sehr hohe Bedeutung beigemessen werden. Allerdings bietet die DSGVO-konforme Nutzung von Gesundheitsdaten auch große Potenziale. In anderen europäischen Ländern wie Dänemark und Finnland ist die Nutzung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken bereits möglich.
Die Expertenkommission befürwortet das im Koalitionsvertrag angekündigte Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten. Die DSGVO-konforme Nutzung sollte für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so gestaltet werden, dass der administrative Aufwand möglichst gering ist.
Ebenso begrüßt die Expertenkommission, dass allen Versicherten eine DSGVO-konforme ePA per Opt-out zur Verfügung gestellt werden soll, die von diesen selbstständig verwaltet werden kann. Um jedoch die mit den ePA-Daten verbundenen Potenziale heben zu können, sollte für Versicherte auch die Möglichkeit der Freigabe der Daten – insbesondere für Forschungszwecke, aber auch für den Datenaustausch zwischen Versorgung und Forschung – möglichst niedrigschwellig ausgestaltet werden.
DÄ: Vorbehalte gegenüber der Nutzung digitaler Anwendungen gibt es in der täglichen Praxis auch bei Ärztinnen und Ärzten sowie bei ihren Patientinnen und Patienten. Wie könnten aus Ihrer Sicht die Möglichkeiten der Telemedizin stärker genutzt werden? Braucht es mehr Anreize?
Cantner: Um die breite Akzeptanz digitaler Gesundheitsanwendungen sicherzustellen, sollte die Informationen über Funktionsweise, Handhabung und Mehrwert dieser Anwendungen breiter gestreut, verständlich formuliert und attraktiver gestaltet werden.
Damit die Möglichkeiten der Telemedizin stärker genutzt werden, sind ausreichende finanzielle Anreize für die Leistungserbringer erforderlich. Wo dies derzeit nicht der Fall ist, sollten daher in der Einführungsphase gleiche Leistungen gleich vergütet werden, unabhängig davon, ob sie telemedizinisch oder konventionell erbracht werden. Dies ist als eine Diffusionsunterstützung zu verstehen, die aber zeitlich beschränkt und damit nur katalytisch eingesetzt werden sollte.
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