„Wir sind an einer Zeitenwende angekommen“
Essen – Der Krankenhaus Rating Report hat in diesem Jahr aufgezeigt, dass im deutschen Gesundheitswesen infolge des demografischen Wandels Rationierungen drohen. Boris Augurzky vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und dem Institute for Health Care Business (hcb) ist Mitautor des Reports und Mitglied in der Regierungskommission, die die anstehende Krankenhausreform vorbereitet. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt er, wie groß die Gefahr von Rationierungen ist und durch welche Maßnahmen man sie bannen könnte.

Fünf Fragen an Boris Augurzky, RWI und hcb
DÄ: Herr Professor Augurzky, seit Jahren weisen Sie darauf hin, dass der demografische Wandel die Patientenversorgung in Deutschland tiefgreifend verändern wird. Nun gehen die ersten Jahrgänge der Babyboomergeneration nach und nach in Rente. Was bedeutet das für die Versorgung?
Boris Augurzky: Es bedeutet, dass wir an einer Zeitenwende angekommen sind. Im Laufe der 2020er-Jahren werden pro Jahr etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland das 65. Lebensjahr erreichen, während es nur 750.000 20-Jährige gibt. Es fehlen pro Jahr also eine halbe Million Köpfe.
Deshalb wird es nicht mehr genug Menschen geben, um die Tätigkeiten auszuführen, deren Ausführung in den letzten Jahren und Jahrzehnten für uns zur Normalität geworden ist. Das beginnt bei eingeschränkten Öffnungszeiten von Cafés und Bäckereien, setzt sich fort in langen Wartezeiten auf Termine bei Handwerkern und endet nicht bei ambulanten Pflegediensten, die keine Kapazitäten mehr haben, neue Pflegebedürftige aufzunehmen.
Und auch auf die Patientenversorgung in den deutschen Krankenhäusern hat das natürlich seine Auswirkungen. Wir müssen uns also bewusstmachen, dass wir uns auf gravierende Veränderungen in unserem Leben einstellen müssen.
DÄ: Welche Veränderungen sind das konkret in der stationären Versorgung?
Augurzky: Die Bedarfe einer älter werdenden Bevölkerung steigen stärker als die personellen und auch die finanziellen Ressourcen, die wir zur Verfügung haben. Damit droht eine Rationierung von Leistungen – sowohl in strukturschwachen Regionen als auch in Ballungsgebieten, jedoch eher in strukturschwachen.
Um eine personelle Mindestbesetzung zu gewährleisten, müssen dann Kapazitäten zusammengelegt werden. Das kann in strukturschwachen Regionen zu größeren Fahrzeiten führen. Dort brauchen wir dann gute Alternativen, zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit zwischen „ambulant“ und „stationär“, telemedizinische Vernetzung oder mobile Dienste.
DÄ: Wie müssten Politik und Selbstverwaltung auf diese Entwicklung reagieren?
Augurzky: Wenn die Bedarfe stärker steigen als die Ressourcen, gibt es nur eine Möglichkeit zu reagieren, wenn man Rationierungen vermeiden will: Man muss die Versorgungseffizienz erhöhen. Das ist auch angesichts der derzeit extrem niedrigen Bettenauslastung in den Krankenhäusern geboten, die 2020 bei 67 Prozent lag. Um die Effizienz zu steigern, gibt es mehrere Möglichkeiten. Man muss dafür aber bereit sein und den Mut haben, neue Wege zu gehen.
DÄ: Was schlagen Sie vor?
Augurzky: Eine wichtige Frage wird sein, wie wir mit dem Trend zur Ambulantisierung umgehen. Wenn manche bislang stationär erbrachten Leistungen künftig stärker ambulant erbracht und komplexere ambulante Fällen kostendeckend vergütet werden – Stichwort Hybrid-DRG – ergeben sich neue Optionen für Krankenhäuser, gerade für kleinere. Sie könnten sozusagen zu einer ambulanten Klinik werden. Der Standort bliebe erhalten, aber seine Rolle ändert sich. Das könnte man auch krankenhausplanerisch abbilden.
Populationsbezogene Vorhaltebudgets für medizinische Leistungsgruppen können ebenfalls diesbezüglich unterstützen. Dabei erscheint eine Aufteilung des bundesweiten DRG-Erlösvolumens, inklusive der Pflegepersonalkosten, in ein Drittel für mengenunabhängige regionale Vorhaltebudgets und zwei Drittel für die Rest-DRG sinnvoll.
DÄ: Sehen Sie andere Optionen?
Augurzky: Eine andere Option sind regionale Gesundheitsbudgets, die ebenfalls ein großes Potenzial besitzen, um das System effizienter zu machen. Für einzelne Regionen würde dabei ein weitgehend mengenunabhängiges Gesundheitsbudget mindestens für ambulante und stationäre Leistungen eingeführt, mit freier Mittelverwendung, Zielvorgabe und Wettbewerb in den Regionen.
Und man muss im Leistungsbestand aufräumen und sich anschauen, welche Leistungen noch sinnvoll sind und welche nicht. In dem Zusammenhang ist es zum Beispiel wichtig, Überversorgungen wie Doppeluntersuchungen in den Blick zu nehmen und abzubauen.
Dabei kann die Digitalisierung helfen, zum Beispiel durch die flächendeckende Einführung einer elektronischen Patientenakte. Während man manche wenig nutzenbringende Leistungen „ausmistet“, schafft man Platz für Produktinnovationen. Zur Digitalisierung gehören dabei auch telemedizinische Leistungen, Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und telenotärztliche Versorgung.
Schließlich ist es nötig, Investitionsmittel für Strukturveränderungen bereitzustellen, so wie es mit dem Strukturfonds seit einigen Jahren geschieht. Derzeit scheint jedoch schon der Fachkräftemangel dafür zu sorgen, dass das stationäre Angebot reduziert wird, sodass gar nicht immer die Wahl besteht, anders zu handeln.
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