Ruf nach Nachbesserung bei Coronaindikatoren, Debatte um Impfpflicht durch die Hintertür

Berlin – Nach dem gestrigen Spitzengespräch von Bund und Ländern in der Coronakrise mehren sich die Stimmen, die Nachbesserungsbedarf bei den Indikatoren sehen. Die Diskussion um die einzelnen Beschlüsse ist in vollem Gange.
Die Indikatoren waren gestern ein Thema der Beratungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder. In ihrem Beschluss hieß es dazu, die Zahl der Krankenhausaufnahmen wegen COVID-19 werde als „wichtige Größe zur Beurteilung des Infektionsgeschehens“ betrachtet.
Daneben wurde betont, dass Bund und Länder „alle Indikatoren, insbesondere die Inzidenz, die Impfquote, und die Zahl der schweren Krankheitsverläufe sowie die resultierende Belastung des Gesundheitswesens berücksichtigen“, um die Coronamaßnahmen gegebenenfalls anzupassen.
Der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU), hätte sich beim Thema Inzidenz und weitere Faktoren „klarere Parameter“ gewünscht. „Da ist der Bund auch nochmal gefordert, was vorzulegen“, sagte er im Deutschlandfunk.
Niedersachsens CDU-Chef und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann erklärte, er halte es „absolut für notwendig, dass man sich mit einer Weiterentwicklung der Inzidenzwerte befasst, die die Impfquote und die Lage in den Krankenhäusern“ berücksichtige, wie er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sagte. Niedersachsen hatte dies in einer Protokollnotiz zum Bund-Länder-Beschluss am Vortag klargemacht.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, kritisierte in der Rheinischen Post, dass es keinen Beschluss zu einem neuen Indikator für Coronamaßnahmen auf der Ministerpräsidentenkonferenz gegeben hat.
„Bedauerlicherweise gibt es keine einheitlichen Regelungen wie die unterschiedlichen Parameter – Inzidenz, Impfquote, Krankenhausbelastung – vor Ort umgesetzt werden.“ Dies könnten nun die Länder und Kommunen in eigener Verantwortung regeln. „Die Überschaubarkeit für die Menschen, was wann wie wo gilt, wird damit schwieriger.“
Auch die Hausärzte dringen darauf, die neuen Maßstäbe zur Beurteilung der Pandemielage zügig festzulegen. Es bedürfe „eines bundeseinheitlichen, umfassenden Bewertungssystems des Pandemiegeschehens auf Basis unterschiedlicher Faktoren“, sagte der Vorsitzende des Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Für die Erarbeitung solcher neuen Maßstäbe „war Zeit genug in den letzten Monaten“.
Erneuter Impfappell
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte sich gestern Abend „nicht ganz“ zufrieden mit den Ergebnissen der Bund-Länder-Runde gezeigt. Es sei ein Ergebnis auf Sicht, sagte der CSU-Politiker in den ARD-„Tagesthemen“: „Wohl auch ein bisschen geschuldet, dass der eine oder andere in Sorge ist, dass man vor der Bundestagswahl nichts Abschließendes entscheiden will.“ Daher sei er mit den Beschlüssen „nicht ganz“ zufrieden.
Söder betonte erneut, dass eine Debatte über Zugänge nur für Geimpfte und Genesene („2G“) wohl bald folgen wird. Derzeit gilt die 3G-Regel, also Freiheiten für Geimpfte, Getestete und Genesene. „2G wird so oder so ab einem bestimmten Zeitpunkt kommen und mir wäre es lieber, wir würden jetzt ehrlich drüber reden als es zu vertagen bis nach der Bundestagswahl“, so Söder. Einige Fußballvereine oder Gastronomen würden bereits jetzt nur für vollständig Geimpfte öffnen. Das sei die Realität. Mit Tests alleine könne man die vierte Welle nicht brechen, sagte Söder.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) machte gestern allen Geimpften Hoffnung auf einen entspannteren Herbst und Winter. „Für diese drei von vier Erwachsenen, die sich haben impfen lassen, wird es keinen erneuten Lockdown geben“, sagte der CDU-Politiker in einem ARD-„Extra“ am Abend. Das sei aktuelle Rechtslage und bundesgesetzlich geregelt. Die Geimpften könnten sich sicher sein, dass es für sie keine neuen Beschränkungen gebe.
Spahn appellierte erneut an die Bevölkerung, sich impfen zu lassen. Noch seien nicht genügend Menschen geimpft, um eine sehr starke Belastung oder Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Dem Appell schloss sich Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher an.
„Bund und Länder sind sich einig, dass der weitere Verlauf der Pandemie, die Infektionszahlen, das, was möglicherweise noch auf uns zukommt, jetzt sehr, sehr stark von der Impfaktivität, von den Impfquoten abhängt“, sagte der SPD-Politiker gestern im Anschluss an die Ministerpräsidentenkonferenz. Alle, die das könnten, sollten jetzt unbedingt ein Impfangebot annehmen.
Wer das nicht mache, müsse sich etwa für Restaurantbesuche, Veranstaltungen oder den Sport im Innenbereich testen lassen. „Da mittlerweile alle ein Impfangebot haben, beendet der Bund am 11. Oktober – das ist in acht Wochen – das Angebot kostenloser Bürgertests“, sagte Tschentscher. Dann gebe es kostenfreie Tests nur noch etwa für Schwangere oder unter 18-Jährige.
Ein Sprecher des Bundessozialministeriums betonte heute, das Ministerium prüfe zudem, ob es Vergünstigungen für sozial Schwache geben könne. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums kündigte an, dass in einer Testverordnung geklärt werden solle, wer entscheide, dass jemand ein Recht auf einen kostenfreien Test habe.
Debatte über Impfpflicht durch die Hintertür
Auf die noch nicht gegen SARS-CoV-2 Geimpften kommen ab dem 23. August bereits verschärfte Testvorschriften zu: Sie müssen dann einen negativen Test vorlegen, um als Besucher in Krankenhäuser und Altenheime zu kommen, um in Restaurants oder Kneipen zu dürfen oder ins Kino, zum Friseur oder zum Sport im Innenbereich. Die Antigenschnelltests dürfen höchstens 24 Stunden, PCR-Tests höchstens 48 Stunden alt sein. Das Ziel der Regierung ist es, mehr Menschen zur Impfung zu bewegen.
Besonders debattiert wird über die Frage, ob es einer Impfpflicht durch die Hintertür gleichkommt, dass die kostenfreien Coronatests wegfallen – und diese zugleich in vielen Situationen des alltäglichen Lebens für Nicht-Geimpfte verpflichtend werden.
Aus Sicht der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, ist die Abschaffung kostenfreier Coronaschnelltests keine versteckte Impfpflicht. „Das ist keine Impfpflicht, auch nicht durch die Hintertür", sagte sie gestern Abend im ZDF. Eine Impfpflicht beinhalte, dass man insgesamt sanktioniert werde, wenn man nicht geimpft sei – unabhängig davon was man mache.
Tatsächlich seien nach den Beschlüssen von Bund und Ländern von gestern beispielsweise Restaurantbesuche auch für Ungeimpfte bei Nachweis eines negativen Testergebnisses möglich. Außerdem bestehe die Alternative, nicht ins Restaurant zu gehen. Eine echte Impfpflicht gäbe es dagegen für die Masernimpfung, so Buyx.
Auch die Göttinger Medizinethikerin Claudia Wiesemann sieht das Ende der kostenfreien Schnelltests für Menschen, die sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen, als gerechtfertigt an. „Die Impfung gegen das SARS-Cov2-Virus stellt für alle Erwachsenen die einfachste und wirksamste Vorbeugungsmaßnahme dar. Da sie verträglich, verfügbar und kostenlos ist, ist der staatlichen Aufgabe, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, Genüge getan“, sagte sie.
Der Staat müsse nicht für alle „Folgekosten einer alternativen Entscheidung oder eines individuell riskanten Lebenswandels aufkommen“, sagte Wiesemann. Nach Ansicht der Medizinethikerin darf der Staat zwar nur in Ausnahmefällen Eingriffe unmittelbar in die körperliche Integrität der Bürger vornehmen. Er könne ihnen aber Kosten aufbürden, die als Folge einer Verweigerung der Impfung entstehen, also etwa die eines Schnelltests. Eine „Impflicht durch die Hintertür“ sei dies nicht.
Von den deutschen Intensivmedizinern kam Zustimmung zu der Strategie von Bund und Ländern, mehr Druck auf Impfunwillige zu machen. „Jetzt ist jedes Mittel richtig, sowohl zu motivieren als auch einen gewissen Druck auszüben“, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Gernot Marx, im Radiosender Bayern 2. Er verstehe nicht, warum Menschen sich nicht impfen ließen, sofern sie keine dem entgegenstehenden Vorerkrankungen hätten.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund stellte sich ebenfalls hinter die Abschaffung der kostenfreien Tests. „Wer ein Impfangebot nicht annimmt, muss akzeptieren, dass er für den Zugang zu bestimmten öffentlichen Veranstaltungen einen selbst finanzierten negativen Test vorweisen muss“, sagte der Hauptgeschäftsführer des kommunalen Verbandes, Gerd Landsberg, der Rheinischen Post.
Kritik kam hingegen von der FDP. Der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki glaubt, die Abschaffung der kostenfreien Tests werde zu einem Rückgang der Testbereitschaft bei Ungeimpften führen, wie er Rheinischen Post erklärte. „Die Aufhebung der Kostenfreiheit für Tests wird bei der Bewältigung der Pandemie kontraproduktiv wirken. Denn dies führt dazu, dass sich deutlich weniger Menschen entscheiden, einen solchen Test zu machen“, sagte Kubicki.
Es werde dazu kommen, dass zwar durch die geringere Zahl an Tests die Inzidenz sinken werde. Aber es würden nicht mehr diejenigen zuverlässig identifiziert,um die es bei der Pandemiebekämpfung eigentlich gehe – die Infizierten. „Außerdem ist vollkommen unklar, wie sich diejenigen im Impfzentrum ausweisen sollen, denen weiterhin ein kostenfreier Test zusteht.“
Immerhin gehe es zum Teil um sensible Gesundheitsdaten. „Es muss also eine neue Infrastruktur aufgebaut werden, um diese Menschen weiterhin kostenlos testen zu können“, sagte Kubicki.
Dem widerspricht die Bundesapothekerkammer (BAK). „Wenn Schnelltests künftig Geld kosten, werden sich mehr Unentschlossene für eine Impfung entscheiden.“, sagte BAK-Präsident Thomas Benkert.
Kritik von Linken und Arbeitgebern
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch hat die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz insgesamt als „Stückwerk“ kritisiert. „Fatal ist, dass es keinen Plan gibt, über positive Anreize die Impfkampagne aus der Tempo-30-Zone zu holen und die Impfung zu den Menschen zu bringen“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Bartsch sagte, das Ziel einer möglichen Herdenimmunität gerate aus dem Blick. Dies liege daran, dass einige der Verantwortlichen vornehmlich die Bundestagswahl im Blick hätten. „Nach der Bundestagswahl drohen dann wieder Schließungen von Schulen.“
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) rief Bund und Länder dazu auf, das verpflichtende Testangebot der Arbeitgeber zu beenden. „Der Staat darf die Kosten für Tests nicht einseitig auf die Arbeitgeber abwälzen“, erklärte die BDA. Die entsprechende Regelung in der Coronaarbeitsschutzverordnung müsse daher spätestens mit dem 11. Oktober auslaufen. Von diesem Tag an sollen bisher kostenfreiem Bürgertests nicht mehr gratis sein.
„Wenn der Staat sich aus der Finanzierung der kostenfreien Coronatests zurückzieht, muss auch das verpflichtende Testangebot der Arbeitgeber enden“, so der Arbeitgeberverband. Das Gebot der Stunde für die Menschen und Betriebe in diesem Land heiße Planungssicherheit und Verlässlichkeit. „Der Bundestagswahlkampf darf nicht auf dem Rücken der Arbeitgeber ausgetragen werden.“
Im Beschlusspapier von Bund und Ländern heißt es, der Bund werde zur Verhinderung betrieblicher Infektionen mit dem Coronavirus die bestehenden Maßnahmen der Arbeitsschutzverordnung an die aktuelle Situation anpassen und verlängern. Dies gelte insbesondere für die Pflicht zur Erstellung und Aktualisierung betrieblicher Hygienekonzepte sowie die Testangebotsverpflichtung.
Bundestag will über Verlängerung der epidemische Lage entscheiden
Zustimmung kommt vom Deutschen Städte und Gemeindebund zum Vorhaben, die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu verlängern. „Damit bleibt die Handlungsfähigkeit der Regierung bei der Pandemiebekämpfung gewahrt. Gerade in Wahlkampfzeiten könnte es andernfalls schwierig sein, möglicherweise notwendige Beschlüsse des Bundestages kurzfristig einzuholen“, sagte Landsberg.
Die epidemische Lage kann nur vom Bundestag festgestellt werden. Sie gibt dem Bund bestimmte Befugnisse in der Coronapandemie, etwa das Recht, direkt Verordnungen zu Tests und Impfungen zu erlassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder wollen den Bundestag bitten, es „zu erwägen“, die epidemische Lage über den 11. September hinaus zu verlängern.
Die SPD im Bundestag ist nach den Worten ihres Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers Carsten Schneider dafür, die epidemische Lage nationaler Tragweite, wie von Bund und Ländern erbeten, zu verlängern.
„Die Infektionszahlen steigen, obwohl in den meisten Bundesländern noch Ferien sind. Damit die notwendigen Gegenmaßnahmen nach bundesweit einheitlichen Maßstäben angewendet werden können, sind wir bereit, die pandemische Lage nach dem Sommer zu verlängern“, sagte Schneider.
Entscheiden könnte das Parlament darüber nach Angaben von Schneider bei seiner voraussichtlich letzten Sitzung vor der Bundestagswahl in knapp vier Wochen. „Die geplante Sitzung des Bundestages am 7. September ist dafür der richtige Zeitpunkt.“
Die FDP spricht sich gegen eine Verlängerung der Coronasonderbefugnisse aus. Dafür gebe es keine ausreichende Begründung mehr, hieß es aus der Fraktion.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: