Ruf nach politischer Aufarbeitung der Coronakrise wird lauter

Berlin – Vier Jahre nach Beginn der Coronapandemie mit Zehntausenden Toten in Deutschland wird der Ruf nach einer Aufarbeitung der staatlichen Politik zur Eindämmung des Virus immer lauter. Aus den Reihen der FDP wird verstärkt auf eine Enquetekommission des Bundestages gedrängt.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai verlangte gestern eine kritische Beschäftigung damit und forderte das Einsetzen einer solchen Kommission. Auch Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann machte sich dafür stark, diese Fragen im Parlament zu diskutieren. AfD-Partei- und Fraktionschefin Alice Weidel forderte einen Coronauntersuchungsausschuss.
Djir-Sarai sagte: „Dass auch rationale Kritik an den verhängten Freiheitseinschränkungen oftmals in die Nähe von Coronaleugnern gerückt wurde, hat zur Spaltung unserer Gesellschaft beigetragen.“
Gerechtfertigte Forderungen nach einem gemäßigten Kurs, wie sie der heutige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) gestellt habe, seien diffamiert worden. Dringend nötig sei eine Enquetekommission, um die begangenen Fehler klar zu benennen und künftig zu vermeiden. „Auch Teile der Politik werden ihre Rolle während dieser Zeit erklären müssen.“
FDP-Chef Christian Lindner bekräftigte die Kritik. „Heute wissen wir, dass viele Entscheidungen der früheren Bundesregierung großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden angerichtet haben“, sagte der Bundesfinanzminister dem Kölner Stadt-Anzeiger.
„Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Zutrittsverbote waren zum Teil absolut unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte.“ Eine Enquetekommission nannte er „das Mittel der Wahl“ zur Aufarbeitung der Coronapolitik.
Die Grünen-Politikerin Haßelmann wies dagegen viel stärker auf die Erfolge der deutschen Coronapolitik hin und verteidigte staatliche Auflagen in der Hochphase der Pandemie. „In der Rückschau können wir mit Erleichterung feststellen, dass unser Land die Coronapandemie und ihre Folgen gut bewältigt hat“, sagte sie.
„Die getroffenen konsequenten Maßnahmen haben sehr vielen Menschen das Leben gerettet.“ Politik und Gesellschaft seien aufgefordert, aus „dieser einzigartigen Krise“ zu lernen, sagte Haßelmann über die Pandemie.
„Wir alle wissen, wie sehr die Pandemie die Lebenssituation von vielen Menschen, vor allem von Kindern und Jugendlichen, beeinflusst hat.“ Sie betonte, es sei wichtig, sich im Nachgang damit zu befassen sowie Lehren und Schlussfolgerungen zu ziehen. „Schließlich waren wir alle noch nie mit einer solchen Extremsituation konfrontiert. Wir sollten diese Fragen im Parlament diskutieren, dort wo schwierige Abwägungen getroffen wurden, um für die Zukunft daraus zu lernen.“
Ihr Parteikollege, Vizekanzler Robert Habeck, sprach sich ebenfalls für eine Rückschau auf die Coronazeit aus, äußerte sich aber nicht dazu, in welcher Form dies geschehen soll. „Wir sollten jetzt eine Phase einleiten, in der wir über die schwere Pandemiezeit mit all ihren Auswirkungen noch mal nachdenken“, sagte er der Bild-Zeitung.
Die damalige Bundesregierung habe in der Pandemie in einer nie gekannten Situation schnell tiefgreifende Entscheidungen treffen müssen. „Sicherlich sind da auch Fehler passiert, aber genauso wäre es ein Fehler gewesen, nicht zu entscheiden“, sagte der Bundeswirtschaftsminister. „Ich denke, wir sollten den Mut haben, die Lehren ziehen, Abläufe überprüfen, die Auswirkungen evaluieren.“
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer unterstützte die Forderungen nach einer Aufarbeitung der Coronapolitik: „Ich halte eine Aufarbeitung – in welcher Form auch immer – für wichtig, um für die Zukunft zu lernen und auch, um den Riss zu kitten, der zwischen Befürwortern und Gegnern der Coronamaßnahmen entstanden ist“, sagte die SPD-Politikerin dem Nachrichtenportal t-online.
Der Linken-Politiker Gregor Gysi sagte t-online, eine Enquetekommission müsse klären, „welche Maßnahmen richtig und notwendig waren, welche bei einem ähnlichen Fall nicht wiederholt werden dürfen und ob es wesentlich weniger beeinträchtigende Alternativen zu den getroffenen Entscheidungen gibt“.
Lauterbach begründete erst vor einigen Tagen seine ablehnende Haltung in Bezug auf eine Enquetekommission und verwies auf die Wissenschaftskommission beim Kanzleramt. „Ich finde es richtig, dass das Thema wissenschaftlich in einem solchen Gremium aufgearbeitet wird. Eine politische Debatte, wie wir sie seit Jahren führen, wo eine kleine Gruppe von Politikern, aber auch Menschen, die vielleicht auch in anderen Bereichen radikale Ideen vertreten, versuchen das Thema zu nutzen, um damit Politik gegen den Staat zu machen – das wird uns nicht nach vorne bringen“, sagte er.
Der Minister stellte klar, dass Deutschland „insgesamt gut durch die Pandemie“ gekommen sei. Das sei auch der Leistung des RKI zu verdanken. Man müsse nun nach vorne blicken. Lauterbach betonte, die Arbeitsgruppe für Gesundheit und Resilienz beim Bundeskanzleramt werde versuchen, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Das sei in Teilen auch bereits geschehen.
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen betonte, besonders die sehr konsequenten Maßnahmen während der ersten Welle, als es noch keine Impfung und zu wenig Schutzausrüstung gegeben habe, habe „sehr viele Menschenleben gerettet“. Er wandte sich gegen eine Enquetekommission oder einen Untersuchungsausschuss. „Als Arzt und Politiker finde ich es vor dem Hintergrund der unzähligen Opfer falsch, die Aufarbeitung der Pandemie nun für die anstehenden Wahlkämpfe instrumentalisieren zu wollen“, so Dahmen.
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