Politik

Rufe nach bundesweiter 2G-Regelung in Coronakrise

  • Mittwoch, 10. November 2021
/picture alliance, Robert Michael
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Berlin – Angesichts der sich zuspitzenden Coronalage mehren sich Rufe nach bundesweiten Einschrän­kungen für Ungeimpfte sowie Warnungen vor einer zunehmenden Belastung der Krankenhäuser. Die ge­schäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der geschäftsführende Bun­des­minister für Gesundheit, Jens Spahn (CDU), dringen mit Nachdruck auf eine rasche Bund-Länder-Abstimmung mit den Ministerpräsidenten.

Die Pandemie breite sich in dramatischer Weise aus, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert heute in Berlin. Dies erfordere eine schnelle und einheitliche Reaktion. Merkel sei in der Regierung, mit den Län­dern und den möglichen künftigen Koalitionsparteien in intensivem Kontakt, um einen schnellstmögli­chen Termin herbeizuführen.

„Das Virus nimmt keine Rücksicht auf politische Abläufe oder Übergangszeiten“, sagte Seibert. Alle spür­ten die gleiche Verantwortung, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden – „ob in der alten oder in der neuen Bundesregierung“. Merkel hat wiederholt klargemacht, für eine Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) bereitzustehen. Unter den Ländern gab es dazu bisher aber keine einheitliche Linie.

Die Kanzlerin mache sich Sorgen über die rapide Entwicklung vor allen in einigen Regionen, sagte Sei­bert. Dabei zeige sich, dass dies von der Impfquote abhänge. Zu klären sei in einer Bund-Länder-Runde unter anderem eine gemeinsame Kraftanstrengung, um mehr Tempo bei Auffrischungsimpfungen zu er­reichen. Es fehle aus Sicht Merkels zudem ein bundesweit vereinbarter Schwellenwert, ab welcher Klinik­­belegung mit Coronapatienten zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssten.

Vor allem brauche es ein gemeinsames Vorgehen bei Zugangsregeln für Geimpfte, Genesene und Getes­tete (3G) oder nur für Geimpfte und Genesene (2G), sagte Spahn heute im „Frühstart“ bei RTL/ntv. „Wir haben jetzt bald wieder 16 unterschiedliche Regelungen, das führt nicht per se zu mehr Akzeptanz.“ Man müsse diskutieren, ob 2G in bestimmten Bereichen, etwa im Freizeitbereich, flächendeckend im ganzen Bund gelten solle.

Spahn warb erneut auch für eine Abstimmung von Bund und Ländern in einer MPK. Dies wäre „ein star­kes Signal an die Bürgerinnen und Bürger, Bund und Länder arbeiten zusammen, machen klar, wie ernst die Lage ist.“

Er verteidigte auch das Vorhaben, die pandemischen Lage von nationaler Tragweite Ende November aus­laufen zu lassen. Diese sei ein „rechtlicher Ausnahmezustand“, bei dem es um das Verhältnis zwischen Par­lament und Regierung gehe. „Das wieder in ein normales Verhältnis zu bringen, das gibt die Lage schon her“. Es sei teilweise das Signal angekommen, die Pandemie sei vorbei. „Das sehe ich auch selbst­kritisch.“ Denn die Pandemie sei nicht vorbei.

Viele für 2G

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach sich für schärfere Kontrollen von Maßnahmen aus, insbeson­dere in der Gastronomie. „Es muss klar sein: Wer sich an das Kontrollieren der 3G- oder 2G-Nachweise als Betreiber nicht hält, der muss die Konsequenzen spüren“, sagte er der Rheinischen Post.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch sagte: „Es geht um eine Güterabwägung und um die Frage, was ist der größere Grundrechtseingriff: Ein erneuter Lockdown mit katastrophalen Folgen, insbesondere für Kinder und Familien, oder ein bundesweit geltendes 2G-Modell.“ Die Coronalage sei wieder außer Kon­trolle. Bei der Grundfrage der Pandemiebekämpfung dürfe es keinen Flickenteppich und keine falsche Rücksichtnahmen geben.

Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte erneut die flächendeckende Anwendung von 2G. „Wir brauchen entweder einen Lockdown oder eine 2G-Regel, und einen Lockdown wird es nicht mehr geben“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Eine deutschlandweite Einführung der 2G-Regel sei im Bund jedoch ohne die Länder nicht durchzusetzen. „Ich rate daher jeder Landesregierung zur Einführung von 2G.“ Er wünsche sie „in allen Bereichen außer in der Grundversorgung“.

Der Marburger Bund mahnte laut RND: „Sollten wir keine bundesweite 2G-Regel einführen, wäre das der nächste Fehler in der Pandemiebekämpfung.“ Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hatte gestern ebenfalls für eine bundesweite 2G-Regelung im Freizeitbereich plädiert.

Die Parteien der voraussichtlichen Ampel-Koalition – SPD, Grüne und FDP – stellen es in ihrem Gesetz­ent­wurf für das künftige bundesweite Coronaregelwerk, der ab dieser Woche im Bundestag beraten wird, den Bundesländern frei, ob sie 3G- oder 2G-Regeln anordnen. Einige Länder haben bereits 2G-Vorschrif­ten erlassen. Bei 3G-Regeln haben zusätzlich auch Getestete Zugang.

Der Virologe Christian Drosten erwartet „einen sehr anstrengenden Winter“ und hält auch neue Kontakt­beschränkungen für denkbar. „Wir haben jetzt im Moment eine echte Notfallsituation“, sagte der Leiter der Virologie in der Berliner Charité angesichts der Lage auf den Intensivstationen im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“. „Wir müssen jetzt sofort etwas machen.“

Dabei müsse man auch Maßnahmen diskutieren, „die wir eigentlich hofften, hinter uns zu haben“, sagte Drosten. „Wir müssen also jetzt die Infektionstätigkeit durch Kontaktmaßnahmen wahrscheinlich wieder kontrollieren – nicht wahrscheinlich, sondern sicher.“ Er schränkte allerdings auch ein, dass es juristisch schwer sein könnte, breite allgemeine Kontaktmaßnahmen durchzusetzen.

Notlage in Kliniken, Katastrophenfall in Bayern

Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis rechnet damit, dass zunehmend Kliniken wieder den Re­gel­betrieb einschränken und Operationen bei nicht lebensbedrohlichen Fällen verschieben. „Wir werden kaum darum herumkommen“, sagte der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) in den ARD-„Tagesthemen“.

Karagiannidis bezog dies besonders auf stark betroffene Bundesländer wie Bayern, Sachsen und Thürin­gen. Die Berliner Charité-Universitätsmedizin sagt bereits seit gestern alle planbaren Eingriffe ab, um Mitarbeiter wieder vermehrt auf COVID-19-Stationen einzusetzen.

Heute zog das Universitätsklinikum in Leipzig nach. Planbare und nicht dringliche Eingriffe würden ver­schoben und die Zahl der Operationen damit um mehr als 30 Prozent verringert, hieß es. Die intensiv­me­dizinische Behandlung der aktuell 18 Corona-Patienten sei personell so aufwendig, dass Mitarbeiter aus anderen Bereichen zur Unterstützung benötigt werden. Aus diesem Grund könne die normale Patienten­versorgung nicht aufrechterhalten werden.

Derzeit seien ungefähr zehn Prozent der Intensivbetten in Deutschland noch frei, erläuterte Karagianni­dis. Das sei relativ wenig, weil eine Intensivstation im Schnitt aus zwölf Betten bestehe. „Und in dem Mo­ment, wo wir regional unter fünf Prozent freie Betten rutschen, sind wir im Prinzip in den Kliniken nicht mehr wirklich handlungsfähig. Und das wird uns in den nächsten Wochen und (...) Monaten (...) zumin­dest in den Hotspots, die wir jetzt haben – Bayern, Sachsen und Thüringen – relativ schnell ereilen.“

In Bayern waren zum Beispiel heute in mehr als der Hälfte der 96 Kreise und größeren Städte weniger als zehn Prozent der Intensivbetten frei. Davon meldeten 21 Kommunen, dass bis auf das letzte Bett die Intensivstationen voll belegt seien.

Angesichts der dramatisch steigenden Infektionszahlen ruft Bayern erneut den landesweiten Katastro­phen­fall aus. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) habe aufgrund „der aktuellen besorgniserregenden Situation in der Coronapandemie die Feststellung des Katastrophenfalls ab dem 11. November 2021 angeordnet“, teilte die Staatskanzlei heute in München mit.

Zuvor hatte Söder dies auch in einer Sitzung der CSU-Landtagsfraktion angekündigt. Das Innenministe­rium werde zeitnah eine entsprechende Bekanntmachung erlassen. Die Feststellung des Katastrophen­falls ermöglicht eine koordinierte und strukturierte Vorgehensweise aller im Katastrophenschutz mitwir­kenden Behörden, Dienststellen und Organisationen. Der Katastrophenfall wurde in der Pandemie bereits am 9. Dezember 2020 ausgerufen, er wurde erst am 4. Juni 2021 wieder aufgehoben.

Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen dringt auf rasche zusätzliche Gegenmaßnahmen, um den rasanten Anstieg der Zahlen zu stoppen. „Die Mischung aus zu vielen Ungeimpften und zu vielen Neuinfektionen bringt das Gesundheitssystem an die Belastungsgrenze“, sagte er. Gebraucht werde nun eine gemeinsame Anstrengung zum Brechen der vierten Welle.

Die zigfach höhere Inzidenz bei Ungeimpften mache eine bundesweite 2G-Regelung erforderlich. Das heiße Zugang nur für Geimpfte und Genesene für alle Freizeitaktivitäten und nicht-essenziellen Dienst­leistungen. Am Arbeitsplatz, im Bahn- und Nahverkehr müssten Zugangsregeln für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G) gelten.

Dahmen forderte auch eine Rückkehr zu Gratisschnelltests, die aber mit verpflichtender App-Anbindung verbessert werden sollten. Die Impfkampagne müsse intensiviert werden, und zwar unter anderem auch in Apotheken. „Wir müssen klar machen, dass Impfen Freiheit bedeutet und Impfverweigerung Freiheit einschränkt.“ Stationäre und mobile Impfzentren müssten reaktiviert und ausgeweitet werden.

Der Grünen-Abgeordnete mahnte zudem: „Im Übergang von alter zu neuer Regierung müssen wir in die­ser brenzligen Lage gemeinsam kommunikations- und handlungsfähig sein.“ Im Bundestag müsse an diesem Donnerstag daher „eine unmissverständliche Botschaft über den Ernst an der Lage“ an die Be­völkerung gesendet werden. „Profilierungsversuche und gegenseitige Schuldzuweisungen sind voll­kommen deplatziert.“

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina dringt auf die Ausweitung von 2G-Regeln und Impfpflichten für bestimmte Berufsgruppen. Nötig seien jetzt „Impfpflichten für Multiplikatoren“, sagte Leopoldina-Präsident Gerald Haug dem Spiegel. Dies seien nicht nur Pflegekräfte, sondern auch Lehr­personal und weitere Berufsgruppen mit viel Kontakt zu anderen Menschen.

Die 2G-Regel, wonach nur geimpfte oder genesene Menschen Zutritt zu Veranstaltungen bekommen, solle „eine größere Geltungsreichweite“ erhalten, forderten Haug und die Leopoldina-Forscher weiter. In der Arbeitsschutzverordnung solle zudem „eine angemessene Regelung zur Offenlegung des Impfstatus“ von Beschäftigten festgeschrieben werden. Bislang dürfen Arbeitgeber den Impfstatus ihrer Beschäftig­ten nicht erfragen.

Die Forderungen der Leopoldina gehen deutlich über die Pläne der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP hinaus, über die morgen im Bundestag beraten werden soll. Darin ist etwa eine Impfpflicht für bestimm­te Gruppen nicht vorgesehen, die Ausweitung von 2G-Regeln soll weitgehend den Ländern überlassen werden.

Die bundesweite Coronainzidenz hat nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) von heute Morgen mit 232,1 erneut einen Rekordwert erreicht. Die Zahl der Neuinfektionen stieg auf 39.676 innerhalb von 24 Stunden. Auch die Zahl der Todesfälle von Coronainfizierten stieg massiv an auf 236 innerhalb eines Tages.

afp/dpa/may

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