Strategie für die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung gefordert

Berlin – Für den Digitalisierungsprozess sind gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig, die sich ausschließlich am Patientennutzen orientieren. Das hat gestern die Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen, Pro Retina Deutschland, bei ihrer gesundheitspolitischen Veranstaltung anlässlich des Tags der Seltenen Erkrankungen betont. Zudem fordern sie, die Nutzung von Gesundheitsdaten auch in der medizinischen Forschung zu fördern und Regeln für eine strukturierte Patientenbeteiligung aufzustellen.
Nach Ansicht der Organisation ermöglicht die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens es zunehmend, während einer Behandlung generierte Gesundheitsdaten auch in der medizinischen Forschung einzusetzen. Dabei ist sie optimistisch, dass diese Gesundheitsdaten zukünftig auch das Wissen über seltene Netzhauterkrankungen, ihre Diagnostik und wirksame Behandlung erweitern werden.
„Die Digitalisierung eröffnet im Gesundheitswesen, auch angesichts eines europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS), grundsätzlich neue Chancen, insbesondere auch für Seltene Erkrankungen“, sagte Frank Brunsmann, Fachbereichsleiter Diagnose und Therapie bei Pro Retina Deutschland.
Daten aus der realen Versorgung notwendig
Erste Therapien für die Behandlung von einigen der etwa einhundert verschiedenen vererbbaren Netzhauterkrankungen seien auf dem Weg in die Regelversorgung. Es komme darauf an, den langfristigen Nutzen von Getherapien oder auch von Orphan Drugs zu beweisen. „Hier können Versorgungsdaten etwas beitragen.“ „Wir brauchen die Daten aus der realen Versorgung, um zu sehen, wie die Therapien wirklich wirken“, sagte Robert Finger, Professor an der Universitätsaugenklinik Bonn.
Behandlungsdaten beziehungsweise Real World Daten (RWD) könnten teilweise die Versorgungspraxis besser abbilden als Daten aus klinischen Studien, die im Rahmen eines stark standardisierten Settings erzeugt wurden. RWD seien deshalb sehr wertvoll für die Versorgungsforschung. „Allerdings muss Nutzung von Versorgungsdaten einfacher werden“, sagte er. „Die Versorgungsdatennutzung muss gezielt gefördert werden.“
Eine konkrete Strategie für die Nutzung der Gesundheitsdaten forderte Brunsmann von der Politik. „Bisher ist diese nicht vorhanden – auch keine Patientenorientierung und keine strukturierte Patientenbeteiligung“, kritisierte er. Bisher gebe es nur einen proklamierten Patientennutzen. Dass die Nutzung der Daten für die Forschung nicht nur ein „Spiel mit der Hoffnung der Patienten“ werde, liege auch in der Verantwortung der Gesundheits- und Forschungspolitik.
Strukturiertes Verfahren notwendig
Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), betonte, dass sein Gremium immer Wirtschaftlichkeit und Qualität gegeneinander abwägen müsse. Randomisierte, kontrollierte Studien seien diesbezüglich immer noch der Goldstandard. „Aber bei seltenen Erkrankungen funktioniert diese Regel nicht“, räumte er ein. Es müsse also anderweitig eine Balance muss hergestellt werden. „Hier kann ein strukturiertes Verfahren angewendet werden, nämlich die anwendungsbegleitende Datenerhebung“, sagte er.
Die Befugnis zur Versorgung der Versicherten könne auf solche Leistungserbringer beschränkt werden, die an der geforderten anwendungsbegleitenden Datenerhebung mitwirken und den Vorgaben des G-BA an die Fragestellung (Patientenpopulation, Endpunkte, Vergleichstherapie) sowie Art und Dauer der Erhebung sowie zur Auswertung entsprechen würden. Daten aus der Versorgung könnten unter Umständen als Ersatz für fehlende Evidenz dienen, sagte Hecken. „Aber wir sollten genau adressieren, welche Versorgungsforschungsschwerpunkte wir uns wünschen.“
Den Chancen der Nutzung von Gesundheitsdaten stehen jedoch auch verschiedene Risiken gegenüber, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Zweck von Forschung und Behandlung und den Schutz der Privatsphäre der Patientinnen und Patienten. „Doch Datenschutz und Forschungsanspruch lassen sich vereinen“, betonte Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise in Kiel.
Problem Datenschutz
Die europäische Datenschutz-Grundverordnung sei prinzipiell forschungsfreundlich, das nationale Recht dagegen deutlich strenger. Als eine Lösung, Datenschutz und Forschungsanspruch in Deutschland zu vereinen, sieht er einen Bund-Länder-Staatsvertrag an. Wegen einer nötigen Bund-Länder-Einigung sieht er jedoch dieses Vorhaben als nicht realisierbar an.
Auch eine Grundgesetzänderung und ein Medizinforschungsgesetz hält er aufgrund einer dafür notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag für nicht umsetzbar. „Am zweckmäßigten erscheint momentan ein Broad Consent mit zusätzlichen Garantien, wie er bei Medizininformatikinitiative und der Nationalen Kohorte zum Einsatz kommt.“
Rechtlich sei aber auch dieser unsicher. „Super wäre der Europäische Gesundheitsdatenraum, wie ihn die Europäische Kommission im Mai 2022 vorgeschlagen hat“, meinte Weichert. „Hier könnte die generelle Verpflichtung bestehen, Daten zur Verfügung zu stellen.“
„Der Datenschutz darf Versorgung, Behandlung und Heilung nicht im Wege stehen“, betont auch der Bundestagsabgeordnete Erich Irlstorfer, CSU. Individuelle Patientendaten seien im digitalen Zeitalter die Voraussetzung für bessere, transparentere und vor allem patientenorientierte Versorgung.
Getreu dem Motto „Daten teilen, heißt besser heilen“ könne es gelingen, das Potenzial von Daten zu nutzen, um die Forschung sowie die Versorgung zu stärken. „Gerade in der medizinischen Forschung brauchen wir gut funktionierende Strukturen, die die Bündelung und Nutzung der Daten ermöglichen“, so Irlstorfer.
Versorgung ohne weitere Verkomplizierung verbessern
Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das Registergesetz oder auch den Europäischen Datennutzungsraum hält Irlstorfer für „notwendig und richtig“. „Nun gilt es vom Wort in die Tat zu kommen und die Gesetze mit Leben zu füllen und umzusetzen“, fordert er. „Ich würde mir wünschen, dass die Ampel als selbsternannte Fortschrittskoalition vorangeht.“ Die Opposition sei bereit, diese Vorhaben mitzutragen, wenn sie sinnvoll und realitätsnah seien. „Es braucht keine weitere Verkomplizierung, sondern ein gut funktionierendes System, um die Versorgung zu verbessern.“
Die SPD-Gesundheitsexpertin Martina Stamm-Fibich hält es für ganz wichtig, den „Datenschatz in der elektronischen Patientenakte (ePA)“ endlich zu heben. Dazu müsse die Opt-out-Lösung kommen. Der Blick nach Österreich zeige, wie erfolgreich dieses Prinzip sein könne. „Eine hohe Nutzungsrate ist aber nur das eine. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Forscherinnen und Forscher Zugang zu den Daten haben“, sagt sie dem Deutschen Ärzteblatt.
„Dafür brauchen wir eine diskriminierungsfreie, zentrale digitale Einwilligung in die Nutzung zu Forschungszwecken.“ Gleichzeitig gelte es Gesundheitsdaten aus der Versorgung auch für die Forschung nutzbar zu machen. „Dazu müssen wir viele Silos aufbrechen – das Zauberwort heißt hier: Interoperabilität.“ Helfen würde nach ihrer Ansicht auch, den „Wildwuchs“ bei der Datenschutzaufsicht zu beenden. „Die zersplitterte Zuständigkeitslandschaft macht es fast unmöglich, datengetriebene Forschung zum Wohle der Gesellschaft zu betreiben.“
Patientenpfade optimieren
Chancen durch die Nutzung von individuellen Gesundheitsdaten sieht Stamm-Fibich viele. Man könne lernen, Versorgung optimal zu gestalten. „Wir können zum Beispiel Patientenpfade optimieren oder Präventionsmaßnahmen besser auf ihre Wirksamkeit untersuchen. Gleichzeitig können uns individuelle Gesundheitsdaten dabei helfen die Effektivität und Sicherheit von Arzneimitteln besser zu bewerten.“
Grenzen müsse man dort setzen, wo mit sensiblen Gesundheitsdaten Missbrauch betrieben werden könne. „Die Nutzung von individuellen Gesundheitsdaten muss deshalb mit einem intelligenten Datenschutz einhergehen.“ Bisher werde in Deutschland der Datenschutz allerdings häufig als Verhinderungsinstrument gebraucht. „Daten retten Leben und deshalb sollten wir sie auch unbedingt nutzen.“
„Wir stehen im Bereich der Datenpolitik immer wieder fehlenden Standards gegenüber, die den Zugang und den Austausch von Daten zwischen verschiedenen Nutzern unmöglich machen“, analysiert der FDP-Digitalpolitiker und Datenexperte Volker Redder. Genau hier greife die Koalition gesetzgeberisch ein. Aktuell befinde sich das Gesundheitsdatennutzungsgesetz zwar noch im Entwurfstatus.
Aber: „Mit diesem Gesetz plant die Bundesregierung wichtige regulatorische Vorgaben betreffend Datenstandards und Interoperabilität zu machen.“ Neben den Primärnutzern von Gesundheitsdaten, also beispielsweise Leistungserbringern in der medizinischen Versorgung, müssten die Daten auch für Sekundärnutzer, also auch für die Forschung, barrierefrei zugänglich sein.
Die FDP wolle die elektronische Patientenakte zu einem allumfassenden Datenraum auszubauen, der für die Primär- und Sekundärdatennutzung zugänglich ist. „Selbstverständlich müssen Patientinnen und Patienten dabei die volle Hoheit über ihre persönlichen Daten behalten“, meint er.
Insgesamt sieht auch Redder große Chancen in der Nutzung von vorhandenen individuellen Daten für die medizinische Forschung. „Der Mensch muss dabei immer im Mittelpunkt stehen. Das betrifft die Nutzung der Daten für die Heilung und die Prävention von Krankheiten. Das betrifft aber auch das Thema Datenschutz.“
Gesundheitsdaten seien hochsensible Daten, aber man könne mehr Menschen zur freiwilligen Einwilligung gewinnen. „Uns muss bewusst sein, dass Erfolge in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung abhängig sind von Zugang zu weitumfassenden Gesundheitsdaten."
Auch der Gesundheitsexperte der Grünen, Armin Grau, der sich als Arzt und Fachbuchautor mit dem Thema seltene neurologische Erkrankungen intensiv befasst hat, hält die Zusammenführung und wissenschaftliche Nutzung von Daten und verstärkte Forschungsförderung gerade für die seltenen Erkrankungen für extrem wichtig.
„Daher werden diese Patientinnen und Patienten von dem geplanten Registergesetz, dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und dem Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) in besonderer Weise profitieren“, erklärte er dem Deutschen Ärzteblatt. „Für eine bessere Zentren- und Netzwerkbildung einschließlich moderner digitaler, telemedizinischer Methoden machen wir uns auch auf bundespolitischer Ebene stark.“
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