Triagegesetz erntet viel Kritik

Berlin – Die Bundestagsentscheidung zur Triageregelung von gestern Abend hat gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen. Insbesondere die Entscheidung, die sogenannte Ex-Post-Triage per Gesetz auszuschließen sorge für Unsicherheiten und könne sogar zu vermeidbaren Todesfällen führen, heißt es von der Ärzteschaft.
Die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bemängelte beim Verbot der Ex-Post-Triage eine „First-come-first-serve-Vergabe“, die sie strikt ablehne. Therapiezieländerungen seien „gelebte Praxis in der Intensivmedizin“ und „medizinethisch geboten“. Dies würde künftig „indirekt außer Kraft“ gesetzt, so die DIVI.
Auch die Bundesärztekammer (BÄK) hatte im Vorfeld kritisiert, dass das Gesetz bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von der Zuteilungsentscheidung ausnimmt.
Mit Unverständnis und Sorge hat heute auch der Präsident der Ärztekammer Hessen, Edgar Pinkowski, auf das gestern vom Bundestag beschlossene Verbot der Ex-Post-Triage reagiert. „Dass Menschen mit Behinderung, schwerkranke und alte Menschen im Fall von Pandemien bei knappen Behandlungskapazitäten auf Intensivstationen nicht benachteiligt werden sollen, ist für Ärztinnen und Ärzte selbstverständlich“, erklärte Pinkowski.
Die neue gesetzliche Regelung, die ausschließt, dass die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit einer größeren Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen wird, mache Ärztinnen und Ärzte handlungsunfähig und gefährde damit Menschenleben.
„Es ist gut, dass sich der Gesetzgeber positioniert und mit dem Gesetz klarstellt, dass es in einer pandemiebedingten Triage-Situation keine Benachteiligung etwa aufgrund einer Behinderung geben darf“, sagte Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg.
Problematisch bleibe aber die Regelung der Ex-Post-Triage. „Auch wenn das ursprünglich geplante kategorische Verbot in letzter Minute relativiert wurde, bleibt einiges aus medizinischer Sicht unberücksichtigt“, kritisierte er.
Regelung gefährdet mehr Leben als sie schützen wird
Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Johannes Albert Gehle, betonte: „Diese Regelung gefährdet mehr Leben als sie schützen wird.“ Die Entscheidung über eine medizinische Behandlung müsse wie bisher in jedem Einzelfall unter medizinischen Gesichtspunkten getroffen werden. „Aber nicht − und das macht Ärztinnen und Ärzten große Sorgen − vor dem Hintergrund einer drohenden Strafverfolgung ärztlichen Handelns.“
Der Marburger Bund Bayern kritisierte diese Entscheidung. Vorstandsmitglied des MB Bayern, Florian Gerheuser bezeichnete die Entscheidung einen eklatanten Fehler. „Erste wissenschaftliche Simulationsdaten legen nahe, dass das Gesetz in der beschlossenen Form die Zahl der vermeidbaren Todesfälle steigern würde, vor allem in den besonders gefährdeten Gruppen“, mahnte Gerheuser.
Der Marburger Bund fordert Rechtssicherheit für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die gezwungen sind, in einem Dilemma wie der Triagesituation nach bestem Wissen und Gewissen Verantwortung zu tragen.
Deutliche Kritik an der Gesetzesreform kam auch vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Das Gesetz stelle die „Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens in Frage“, erklärte das Menschenrechtsinstitut in Berlin. Es bleibe „nur noch die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht“.
Patientenvertreter begrüßen Gesetz
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, begrüßte bereits gestern in einer Stellungnahme die Reform, warnte aber auch vor Problemen im Klinikalltag: Alte, mehrfach kranke und behinderte Patienten würden „in der Realität“ benachteiligt, so Brysch.
Der Bundestag hatte gestern Abend eine Reform des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlich erkrankten Patienten ist demnach künftig allein entscheidend, wer behandelt werden soll, wenn überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungssessourcen wie Atemgeräte oder Intensivbetten nicht für alle ausreichen.
Eine bereits begonnene überlebenswichtige Behandlung darf nicht zugunsten von neuen Patienten mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen werden. Über eine getroffene Triageentscheidung, die mindestens des „Vier-Augen-Prinzips“ bedarf, müssen die Krankenhäuser die zuständigen Behörden informieren.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Dezember eine gesetzliche Regelung gefordert, die die Benachteiligung insbesondere von Menschen mit Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger knapper intensivmedizinischer Ressourcen etwa in einer Pandemiesituation ausschließt.
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