Ärzteschaft

Schmerzbedingte Operationen: Eingriffe vielfach offenbar nicht notwendig

  • Freitag, 25. März 2022
/HNFOTO, stock.adobe.com
/HNFOTO, stock.adobe.com

Berlin – Wird eine zweite Meinung eingeholt, wenn es um die Indikation für eine Operation bei Patienten mit chronischen Schmerzen geht, widerspricht diese sehr häufig der ursprünglichen Entscheidung. So raten zum Beispiel die Zweitmeiner in fast 98 Prozent der Fälle von einem chirurgischen Eingriff an der Wirbelsäule ab.

Diese Zahlen basieren auf einer Analyse, die Michael A. Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, auf der Auftaktpressekonferenz anlässlich des Deutschen Schmerz- und Palliativ­tages vorstellte.

Sie schloss Daten von mehr als 7.000 Betroffenen mit chronischen Schmerzen und einer Indikation für eine Wirbelsäulenoperation ein. Bei ihnen lag eine Zweitmeinung, die im Rahmen einer interdisziplinä­ren Schmerzkonferenz (ISK) – des IMC-Zweitmeinungsverfahrens – erhoben wurde, vor.

Demnach sei nur bei 2,4 Prozent der Patienten eine schmerzbedingte Operation notwendig, berichtete Überall. Auch bei Gelenkoperationen (Gelenkendoprothetik) von knapp 4.000 Patienten entschieden sich die Zweitmeiner in etwa 87 Prozent der Fälle gegen eine Operation.

„Das heißt, wir haben hier eine ganz hohe Diskrepanz zwischen den faktisch angeordneten Operationen und den tatsächlich aus schmerzmedizinischer Sicht relevanten und durchzuführenden Operationen“, be­wertete Überall die Ergebnisse.

Unter den Patienten, denen von einem Wirbelsäuleneingriff abgeraten wurde, erhielten fast drei Viertel eine spezifische multimodale Schmerztherapie (MMST) und etwa ein Viertel eine konservative Therapie im Rahmen der Regelversorgung. Die MMST lindere die Beschwerden sehr effektiv, so Überall.

Bei den Betroffenen, die der Zweitmeinung zufolge keine Gelenkoperation erhalten sollten, wurde bei zirka 60 Prozent eine MMST durchgeführt, teilte Überall mit. Eine konservative Therapie erfolgte bei ungefähr einem Viertel.

Das Zweitmeinungsverfahren

Das Einholen einer Zweitmeinung etwa bei Wirbelsäulenoperationen hat der Gemeinsame Bundes­aus­schuss (G-BA) als Regelleistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen eingeführt. Überall berichte­te, dass bei diesem Verfahren die Bewertung, sondern, ob alle konservativen Therapiemöglich­keiten ausgeschöpft sind, im Vordergrund stehe.

Zu einer Zweitmeinung berechtigten Fachärzte stammen aus den operativen Berei­chen wie Orthopädie, Neurochirurgie oder Unfallchirurgie, so der Experte, aber auch aus der Allgemeinmedizin, der inneren Medizin und aus der Anästhesie, wenn die Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie vorliegt. Da­rü­ber hinaus sollten auch Physiotherapeuten oder Krankengymnasten in einer interdisziplinären Schmerz­konferenz (ISK) in den Prozess mit einbezogen werden, so Überall.

Forderungen von Seiten der Schmerzmedizin

Daraus ergäben sich aus Sicht der Schmerzmedizin mehrere Forderungen, die Überall vorstellte. So sollten keine schmerzbedingten Operationen ohne Einholen einer qualifizieren Zweitmeinung mehr durchgeführt werden. Die Zweitmeinung sollte im Rahmen einer ISK erhoben werden.

Wichtig sei, die Betroffenen in den Mittelpunkt der Entscheidung zu stellen und nicht das angestrebte Verfahren. Die ISK ziele nicht auf die Bewertung der technischen Operabilität, vielmehr stehe die Bewer­tung alternativer konservativer Verfahren im Rahmen einer MMST im Vordergrund. Darüber hinaus sollte sich die Vergütung nicht nach dem Verfahren richten, sondern danach, ob der Patient von der Therapie profitiert.

Hintergrund chronische Rückenschmerzen

Zwischen 2006 und 2016 hat die Zahl der Patienten mit chronischen Rücken- und Kreuzschmerzen konti­nuierlich zugenommen, berichtete Überall basierend auf Daten von AOK-Versicherten. Parallel dazu wür­den auch sehr viel mehr bildgebende Untersuchungen durchgeführt, etwa Magnetresonanztomografien (MRT). „Wir sind mittlerweile Weltmeister, was diese Verfahren angeht“, so Überall, und hätten Japan bei der Häufigkeit der Untersuchungen überholt.

Im Zuge dieser Entwicklungen stieg auch die kumulative Zahl der Eingriffe an der Wirbelsäule (kumu­la­tiv) enorm an: insgesamt um etwa 500 Prozent. Einzelne Verfahren wie knöcherne Dekompressionen bei Spi­nalkanalstenosen hätten um mehr als 1.700 Prozent zugenommen, zeigte Überall: „Das sind gigan­tische Zah­len.“

Allerdings ließen sich auch bei Menschen ohne Rückenschmerzen in der Bildgebung, etwa in der Com­putertomografie oder der MRT, auffällige Befunde an der Wirbelsäule finden (Metaanalyse im American Journal of Neuroradiology, 2015; DOI: 10.3174/ajnr.A4173), zum Beispiel Bandscheibendegeneration bei 96 Prozent oder Höhenminderung der Bandscheibe bei 84 Prozent.

„Die Frage ist daher nicht, was man da findet, sondern eher, ob man was nicht findet“, kommentierte Überall die Ergebnisse. Käme bei Menschen mit diesen zufälligen Befunden noch entsprechende Be­schwerden hinzu, würden ein kausaler Zusammenhang hergestellt und womöglich eine aus seiner Sicht nicht notwendige Operation empfohlen.

Der Experte zeigte darüber hinaus, dass in Deutschland große regionale Unterschiede existieren, wie häufig Wirbelsäulenoperationen durchgeführt werden (Faktencheck Rücken der Bertelsmann Stiftung). Diese ließen sich medizinisch nicht eindeutig erklären, weder krankheits- noch bevölkerungsspezifische Besonderheiten lägen dem zugrunde.

Überalls Angaben zufolge sind Eingriffe an der Wirbelsäule die am häufigsten durchgeführten Operatio­nen in Deutschland, gefolgt von Gelenkoperationen. Dies zusammen mit den regionalen Differenzen ließe vermuten, dass dies nicht dem Bedarf, sondern eher dem Angebot entspräche.

Viele Eingriffe seien demnach unnötig, schlussfolgerte Überall. Denn auch die Evidenz für schmerzbe­dingte chirurgische Eingriffe sei unzureichend. Ergebnisse diverser Studien zeigten, dass Schmerzpatien­ten von einer Operation im Vergleich zu Placbeooperationen nicht profitierten.

aks

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung