Überflüssige Arztbesuche: Ärzte weisen Kritik zurück

Berlin – Müssten die Bundesbürger nur halb so oft zum Arzt – ohne, dass es ihnen schlechter ginge? Das behauptet der Chef der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), Ingo Kailuweit. Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und Patientenschützer sind ganz anderer Meinung.
Kailuweit hatte Bild online gesagt, in Deutschland gebe es nicht zu wenig Ärzte, sondern zu viele Arztkontakte. Die Hälfte dieser Arztbesuche sei „überflüssig“. Nicht Vermittlungs-, sondern Verteilungsprobleme seien der Grund für fehlende Facharzttermine. Zudem erklärte er der Bild, Patienten würden zu häufig falsch behandelt und Hausärzte hielten ihre Patienten zu lange.
„Wir müssen dringend über eine Steuerung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sprechen, wie es KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) in ihrem Programm ,KBV 2020’ auch fordern“, sagte der Vorstandsvorsitzende der KBV, Andreas Gassen. Purer Populismus à la KKH führe aber nicht weiter. Gassen betonte, einzelne Krankenkassen trieben zudem selbst die Zahl der Arztkontakte hoch, indem sie etwa offensiv bei ihren Versicherten das Einholen von Zweitmeinungen bewerben würden.
Gassen verwies darauf, dass schon heute jede zehnte von Ärzten erbrachte Leistung im Durchschnitt nicht vergütet wird. „Es besteht also überhaupt kein Interesse daran, unnötigerweise die Zahl der Arztkontakte beziehungsweise der Praxisbesuche der Patienten zu steigern“, so Gassen.
Das Problem im kränkelnden Gesundheitswesen sei nicht der Patient, sondern das System, hieß es von der Freien Ärzteschaft (FÄ). Im Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) blieben die Patienten in völliger Unkenntnis über die Kosten von Arztbesuchen, sagte FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich. Nur mit einer sozialverträglichen Selbstbeteiligung oder dem Prinzip der Kostenerstattung wie in der Privaten Krankenversicherung ließe sich die Anzahl der Arztbesuche reduzieren. Grundsätzlich müsse in einer liberalen Gesellschaft letztlich dem einzelnen Patienten überlassen bleiben, ob ein Arztbesuch notwendig und wie dringend dieser sei.
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz zeigte sich irritiert über die Äußerungen. Vorstand Eugen Brysch wies die Behauptungen Kailuweits als „heiße Luft“ zurück. Es gebe keine Beweise dafür, dass die Hälfte der Arztbesuche überflüssig sei. „Wenn Krankenkassen davon träumen, Arztbesuche zu steuern, dann ist das der Albtraum für die Patienten“, so Brysch. Die Linken-Chefin Katja Kipping sprach von einem „absurden Vorwurf“. Sie erklärte, zu einer guten Gesundheitsvorsorge gehöre auch, im Zweifelsfall einen Arzt zu konsultieren. Den Leuten zu sagen, sie sollten nicht so häufig zum Arzt gehen, „lenkt davon ab, dass die Bundesregierung die gesetzliche Gesundheitsversorgung aushöhlt“.
Auf welche Fakten Kailuweit seine Aussagen konkret stützt, dazu äußerte sich die Kasse auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes (DÄ) nicht. Die KKH verwies lediglich auf Zahlen der OECD aus dem Jahr 2013, wonach es in Deutschland rund 10 Arztbesuche pro Kopf und Jahr gebe. Damit läge man über dem OECD-Durchschnitt von 6,6. Darüber hinaus würden eigene Daten der Kassen zeigen, dass 20 Prozent der KKH-Versicherten fünf oder mehr Medikamente einnähmen. KKH-Daten zufolge würden rund 25 Prozent der Arzneimittel, die auf der Priscus-Liste stünden, dennoch älteren Patienten verordnet. Das führe zu Folgeerkrankungen und Nebenwirkungen, die ebenfalls wieder ambulant oder sogar stationär behandelt werden müssten, hieß es.
Bei der Kritik Kailuweits, Hausärzte würden Patienten nicht schnell genug überweisen, rudert der Kassenchef zurück. Dem DÄ sagte die KKH, es gelte, die Hausarztpraxis zur Schaltstelle im Gesundheitssystem auszubauen. Für die Versicherten, die sich in einen Hausarztvertrag einschreiben würden, sei der Hausarzt dann stets erster Anlaufpunkt. „Er überweist rechtzeitig an die Fachärzte, bei ihm laufen die Berichte über Befunde, Therapien und verordnete Medikamente zusammen. Die Fachärzte wiederum geben ihre Patienten mit positivem Behandlungsverlauf wieder an die Hausärzte zurück. Somit entstehen keine Wartezeiten und keine Doppelversorgungen“, hieß es.
Kailuweit hatte im Gespräch mit Bild online nicht nur die Ärzte, sondern auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) attackierte. Der Kassenchef warf dem Minister vor, Strukturreformen zur Lösung gesundheitspolitischer Probleme zu vernachlässigen. Dass es kaum Kritik an der Gesundheitspolitik der Regierung gebe, liege daran, dass der Arbeitgeberanteil am Kassenbeitrag festgeschrieben sei. Im laufenden und kommenden Jahr rechnet Kailuweit mit einer Kostensteigerung für die gesetzlichen Krankenkassen von 4,5 Milliarden Euro. „Das hätten die Arbeitgeber nie zugelassen, wenn sie die Hälfte davon hätten zahlen müssen“, sagte er.
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