Ärzteschaft

Überflüssige Arztbesuche: Ärzte weisen Kritik zurück

  • Mittwoch, 14. September 2016
Uploaded: 08.11.2013 13:45:40 by mis
/dpa

Berlin – Müssten die Bundesbürger nur halb so oft zum Arzt – ohne, dass es ihnen schlechter ginge? Das behauptet der Chef der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), Ingo Kailuweit. Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und Patientenschützer sind ganz anderer Meinung.

Kailuweit hatte Bild online gesagt, in Deutschland gebe es nicht zu wenig Ärzte, sondern zu viele Arztkontakte. Die Hälfte dieser Arztbe­su­che sei „über­flüssig“. Nicht Vermitt­lungs-, sondern Verteilungsprobleme seien der Grund für fehlen­de Facharzttermine. Zudem er­klärte er der Bild, Patienten würden zu häufig falsch behandelt und Hausärzte hielten ihre Patienten zu lange.

„Wir müssen dringend über eine Steuerung der Inanspruchnahme medizinischer Leis­tungen sprechen, wie es KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) in ihrem Pro­gramm ,KBV 2020’ auch fordern“, sagte der Vor­stands­vorsitzende der KBV, Andreas Gassen. Purer Populismus à la KKH führe aber nicht weiter. Gassen betonte, einzelne Krankenkassen trieben zudem selbst die Zahl der Arztkontakte hoch, indem sie etwa offensiv bei ihren Versicherten das Einholen von Zweitmeinungen bewerben würden.

Gassen verwies darauf, dass schon heute jede zehnte von Ärzten erbrachte Leistung im Durchschnitt nicht vergütet wird. „Es besteht also überhaupt kein Interesse daran, un­nö­tigerweise die Zahl der Arztkontakte beziehungsweise der Praxisbesuche der Patienten zu steigern“, so Gassen.

Das Problem im kränkelnden Gesundheitswesen sei nicht der Patient, sondern das Sys­tem, hieß es von der Freien Ärzteschaft (FÄ). Im Sachleistungssystem der gesetz­lichen Krankenversicherung (GKV) blieben die Patienten in völliger Unkenntnis über die Kosten von Arztbesuchen, sagte FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich. Nur mit einer sozial­ver­träg­li­chen Selbstbeteiligung oder dem Prinzip der Kostenerstattung wie in der Pri­vaten Kran­ken­versicherung ließe sich die Anzahl der Arztbesuche reduzieren. Grundsätzlich müsse in einer liberalen Gesellschaft letztlich dem einzelnen Patien­ten überlassen bleiben, ob ein Arztbesuch notwendig und wie dringend dieser sei.

Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz zeigte sich irritiert über die Äußerungen. Vorstand Eugen Brysch wies die Behauptungen Kailuweits als „heiße Luft“ zurück. Es gebe keine Beweise dafür, dass die Hälfte der Arztbesuche überflüssig sei. „Wenn Kran­kenkassen davon träumen, Arztbesuche zu steuern, dann ist das der Albtraum für die Patienten“, so Brysch. Die Linken-Chefin Katja Kipping sprach von einem „absurden Vor­wurf“. Sie erklärte, zu einer guten Gesundheitsvorsorge gehöre auch, im Zweifelsfall ei­nen Arzt zu konsultieren. Den Leuten zu sagen, sie sollten nicht so häufig zum Arzt gehen, „lenkt davon ab, dass die Bundesregierung die gesetzliche Gesund­heits­ver­sor­gung aushöhlt“.

Auf welche Fakten Kailuweit seine Aussagen konkret stützt, dazu äußerte sich die Kasse auf Nach­frage des Deutschen Ärzteblattes (DÄ) nicht. Die KKH verwies lediglich auf Zahlen der OECD aus dem Jahr 2013, wonach es in Deutschland rund 10 Arztbe­su­che pro Kopf und Jahr gebe. Damit läge man über dem OECD-Durchschnitt von 6,6. Da­rü­ber hinaus würden eigene Daten der Kassen zeigen, dass 20 Prozent der KKH-Versi­cher­ten fünf oder mehr Medikamente einnähmen. KKH-Daten zufolge würden rund 25 Prozent der Arzneimittel, die auf der Priscus-Liste stünden, dennoch älteren Patienten verordnet. Das führe zu Folgeerkrankungen und Nebenwirkungen, die ebenfalls wieder ambulant oder sogar stationär behandelt werden müssten, hieß es.

Bei der Kritik Kailuweits, Hausärzte würden Patienten nicht schnell genug überweisen, ru­dert der Kassenchef zurück. Dem sagte die KKH, es gelte, die Haus­arzt­­praxis zur Schaltstelle im Gesundheitssystem auszu­bauen. Für die Versicherten, die sich in einen Hausarztvertrag einschreiben würden, sei der Hausarzt dann stets ers­ter Anlauf­punkt. „Er überweist rechtzeitig an die Fachärzte, bei ihm laufen die Berichte über Befun­de, Therapien und verordnete Medikamente zusammen. Die Fachärzte wie­de­rum geben ihre Patienten mit positivem Behandlungsverlauf wieder an die Hausärzte zu­rück. Somit entstehen keine Wartezeiten und keine Doppel­versorgun­gen“, hieß es.

Kailuweit hatte im Gespräch mit Bild online nicht nur die Ärzte, sondern auch Bundes­ge­sundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) attackierte. Der Kassenchef warf dem Mi­nis­ter vor, Struktur­re­for­men zur Lösung gesundheitspolitischer Probleme zu ver­nach­lässi­gen. Dass es kaum Kri­tik an der Gesundheitspolitik der Regierung gebe, liege daran, dass der Arbeitgeberan­teil am Kassenbeitrag festgeschrieben sei. Im laufenden und kommen­den Jahr rechnet Kailuweit mit einer Kostensteigerung für die gesetzlichen Kranken­kassen von 4,5 Milli­ar­den Euro. „Das hätten die Arbeitgeber nie zugelassen, wenn sie die Hälfte davon hätten zahlen müssen“, sagte er.

may/dpa/afp/kna

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung