Vermeidbare Notfallbehandlungen im Krankenhaus kosten fünf Milliarden Euro

Berlin – Die Kosten für die Behandlung von Patienten in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, denen ein niedergelassener Arzt ebenso gut hätte helfen können, belaufen sich jährlich auf knapp 4,8 Milliarden Euro. Das hat das IGES-Institut im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) berechnet und heute in Berlin vorgestellt. Die Auswertung basiert auf Krankenhausdaten aus dem Jahr 2013.
Insgesamt haben die IGES-Wissenschaftler knapp 3,5 Millionen vermeidbare Krankenhausnotfälle ermittelt, wie deren Geschäftsführer Martin Albrecht ausführte. Die Hälfte dieser Patienten suchte ohne ärztliche Einweisung die Notaufnahme auf. An Werktagen zu Praxisöffnungszeiten liege die Zahl vermeidbarer Aufnahmen ohne ärztliche Überweisung mit 642.500 im Übrigen etwa genauso hoch wie außerhalb der Sprechzeiten mit 652.483, sagte Albrecht. Zugleich verwies er auf große regionale Unterschiede: „Die Zahl grundsätzlich vermeidbarer Krankenhausaufnahmen während der Praxisöffnungszeiten ist im Ruhrgebiet und in ländlichen Regionen pro Kopf der Bevölkerung größer als in Großstadtzentren.“
Ein relativ dünnes ambulantes Behandlungsangebot – was, gemessen am Versorgungsbedarf, auch auf das Ruhrgebiet zutreffe – sowie eine geringe Auslastung der Bettenkapazität an den Krankenhäusern können nach Ansicht von Andreas Gassen die regionalen Unterschiede erklären. Ein früheres IGES-Gutachten sei bereits zu dem Schluss gekommen, dass in städtischen Gebieten mit einer hohen Dichte an niedergelassenen Fachärzten der Anteil vermeidbarer Krankenhausfälle tendenziell niedriger war als in ländlichen Gebieten, sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des Zi.
„In der Portalpraxis muss die Triage der Patienten stattfinden“
Mitverantwortlich für die derzeitige Situation sei aber auch die völlige Wahlfreiheit der Patienten. Diese wählten von sich aus den direkten Weg ins Krankenhaus, entweder, weil das Krankenhaus für sie als Anlaufpunkt sichtbarer sei, weil sie sich eine Komplettversorgung aus einer Hand versprächen oder weil sie keinen Termin bei einer ansonsten stark ausgelasteten Facharztpraxis vereinbaren wollten.
Häufig werde die Inanspruchnahme einer Krankenhausambulanz aber auch direkt beworben, kritisierte Gassen: „Das gilt insbesondere in Ballungsräumen, wo Krankenhäuser gut erreichbar sind sowie gut ausgebaute Krankenhauskapazitäten und insbesondere große Kapazitäten in den Notaufnahmen bestehen.“ Hier müsse auch die Frage nach der Anreizstruktur für die Krankenhäuser gestellt werden.
Die Lösungsansätze des Gesetzgebers, der jüngst im Versorgungsstärkungsgesetz und im Krankenhausstrukturgesetz Krankenhäuser und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) in der Notfallversorgung zur Kooperation verpflichtet hat, greifen nach Ansicht von Gassen zu kurz.
Die vom Gesetzgeber geforderten Portalpraxen machten nur dann Sinn, wenn es eine gemeinsame Planung von Notfallkapazitäten gebe. Es müssten ambulante Anlaufstellen an wichtigen Krankenhausstandorten geschaffen werden, die rund um die Uhr besetzt und unabhängig vom Krankenhausträger betrieben würden. Unnötige Krankenhausambulanzen müssten geschlossen werden. Die KVen müssten in Abstimmung mit den Ländern die Kompetenz für die entsprechende Planung erhalten, so der Zi-Vorsitzende.
Besetzt werden sollten diese Anlaufstellen mit Haus- und Fachärzten, die dort entweder eine Filialpraxis betrieben oder diese Dienste honoriert bekämen. In der Portalpraxis müsse die Triage der Patienten stattfinden, „ohne weitere Schleichwege ins Krankenhaus“, forderte Gassen. Die Fehlallokation von fünf Milliarden Euro im Gesundheitssystem sei sträflich. „Das Geld fehlt an anderer Stelle.“
Krankenhäuser: Keine milliardenschwere Fehlsteuerung
Der Katholische Krankenhausverband Deutschlands (KKVD) bezweifelt derweil, dass es den KVen gelingen kann, die Notfallversorgung allein zu steuern. Trotz hoher Arztdichte gebe es in Deutschland unterversorgte Gebiete. Arztpraxen wären demzufolge in einigen Regionen mit zusätzlichen Patientenströmen überfordert, sagte dessen stellvertretender Vorsitzender Ingo Morell. Die KVen müssten erst einmal ihre eigenen strukturellen Defizite ausräumen.
Morell wie darauf hin, dass es künftig noch stärker um eine Straffung von medizinischen Angeboten gehen müsse. „An vielen Orten kooperieren wir erfolgreich mit niedergelassenen Fachärzten und profitieren gegenseitig von der Infrastruktur wie etwa im Bereich der Röntgenmedizin“, sagte Morell. Umgekehrt würden viele von den KVen betriebenen Bereitschaftsdienstpraxen ärztliches Personal aus den Krankenhäusern einbinden. „Es ist nicht nachvollziehbar, ein funktionierendes System grundsätzlich infrage zu stellen“, meinte der stellvertretende KKVD-Vorsitzende.
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) übte Kritik an den Zahlen und Schlussfolgerungen des Zi. Es sei nicht zielführend, mit Blick auf die Notfallbehandlung im Krankenhaus von einer milliardenschweren Fehlsteuerung zu reden und „ambulant vor stationär“ zu fordern, erklärte deren Präsident Thomas Reumann. „Es wäre sinnvoller, wenn die KBV sich Gedanken machte, wie sie die Notfallversorgung in ihrer Zuständigkeit verbessert.“ Mit den Portalpraxen gebe es nun ein weiteres Instrument. Es müsse aber auch genutzt werden, forderte Reumann. Die Notfallversorgung sei für die Patienten von zentraler Bedeutung. „So ein Thema darf nicht zum Spielball von Verbandsinteressen werden“, betonte der DKG-Präsident.
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