Politik

Viele Barrieren für ungewollt schwangere Frauen

  • Mittwoch, 10. April 2024
/wanchai chaipanya, stockadobecom
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Berlin – Ungewollte Schwangerschaften stellen für viele Frauen in Deutschland eine Grenzsituation dar. Bei einem Schwangerschaftsabbruch stoßen sie nach wie vor auf viele Barrieren, wie zum Beispiel auf Schwierig­keiten beim Zugang zu Informationen, teilweise hohe Kosten für den Abbruch oder einen eingeschränkten Zugang zum Versorgungsangebot, der sich insbesondere regional unterscheidet. Probleme gibt es insbeson­dere in den südlichen Bundesländern.

Dies zeigt die vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) aufgrund eines Beschlusses des Bundestages geförderte ELSA-Studie – „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versor­gung“–, deren erste Ergebnisse heute der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Im Herbst soll der Gesamtbericht einschließlich Handlungsempfehlungen an die Regierung übergeben werden. Für Deutschland gibt es bislang keine andere vergleichbar umfassende und fundierte Erhebung.

„Die gewonnenen Erkenntnisse zum Erleben und Verarbeiten ungewollter Schwangerschaften, zu den psycho­sozialen Beratungs- und Unterstützungsangeboten sowie zur medizinischen Versorgungssituation können sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene wie auch von Institutionen und Einrichtungen dafür genutzt werden, um diese Unterstützungs- und Versorgungsleistungen passfähiger auf die Bedarfe der Frauen hin zu entwickeln und dafür gegebenenfalls die adäquaten gesundheits- und fachpolitischen Entscheidungen zu treffen“, erläuterte heute Daphne Hahn, Projektleiterin und Professorin für Gesundheitswissenschaften und empirische Sozialforschung an der Hochschule Fulda.

Im Rahmen der Untersuchung hatte ein multidisziplinärer Forschungsverbund mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von sechs Hochschulen und Universitäten in den vergangenen dreieinhalb Jahren die Le­bens­lagen und Bedürfnisse ungewollt Schwangerer, ihre Unterstützungs- und Versorgungsbedarfe sowie die Versorgungsstrukturen analysiert.

„Untersucht wurden einerseits die Belastungen und Ressourcen von Frauen, die eine ungewollte Schwanger­schaft austragen oder abbrechen sowie deren Entstehungsbedingungen und Veränderungen im Zeitverlauf. Andererseits haben wir den Stand der psychosozialen und medizinischen Unterstützungs- und Versorgungs­angebote analysiert“, erläuterte Hahn.

Befragt wurden mehr als 5.000 Frauen mit ungewollten oder gewollten Schwangerschaften. Die Studie um­fasst dabei zum einen eine repräsentative Erhebung bei 4.429 Frauen, die eine ungewollte oder gewollte Schwangerschaft ausgetragen haben. Zum anderen wurde eine – im statistischen Sinn nicht repräsentative – Stichprobe von 662 Frauen mit Schwangerschaftsabbruch befragt.

Auffällig war, dass die Lebenslagen von Frauen, die ungewollt schwanger wurden, sehr heterogen sind. Inter­essanterweise unterschieden sie sich gerade dadurch von den Lebenslagen bei gewollten Schwangerschaften. „Für Familiengründungen und -erweiterungen ungünstige Lebensumstände sind bei ungewollt eingetretenen Schwangerschaften häufiger verbreitet als bei gewollten Schwangerschaften“, erklärte Laura Olejniczak, So­zialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg.

Bei ungewollt eingetretenen Schwangerschaften, die später abgebrochen würden, seien krisenhafte Partner­schaften, eine sehr angespannte finanzielle Situation, eine noch nicht abgeschlossene Ausbildung oder Ar­beitslosigkeit der Frau oder ihres Partners häufiger als bei letztlich ausgetragenen ungewollt eingetretenen Schwangerschaften, berichtete Tilmann Knittel, ebenfalls vom Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg.

Wichtig ist dem Wissenschaftler zudem: „Die ungünstigen Lebensumstände betreffen jeweils nur eine Minder­heit der Schwangeren. Es gibt nicht die typische Lebenslage ungewollt Schwangerer.“ Typisch sei jedoch, dass ein oder mehrere Lebensumstände unpassend seien, um ein Kind zu bekommen. „Das steht in einem starken Kontrast zu den gewollten Schwangerschaften, wo ungünstige Lebensumstände die Ausnahme sind.“

Ein weiteres wesentliches Ergebnis der ELSA-Studie: Ob eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen wird, hat längerfristig keinen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der betroffenen Frau.

Dieser Befund decke sich mit internationalen Forschungsergebnissen, so Knittel. Bei Frauen, die eine unge­wollte Schwangerschaft abgebrochen haben und Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen haben, beeinflussten dabei unterschiedliche Faktoren das Wohlbefinden, besonders starken Einfluss habe der körperliche Gesundheitszustand drei Monate nach Ende der Schwangerschaft.

Einfluss haben aber auch Stigmata, die Frauen erleben. So berichtet jede vierte Frau von Vorwürfen durch Familie, Freunde oder medizinisches Personal. Fast die Hälfte der Betroffenen hat sich alleingelassen gefühlt. „Bei der Auseinandersetzung mit einer ungewollten Schwangerschaft begeben sich Frauen in einen Entschei­dungsprozess. Hierbei steht die Abwägung zwischen der aktuellen Lebenssituation und zukünftigen Lebens­plänen im Vordergrund“, erläuterte Anke Wyrobisch-Krüger von der Hochschule Fulda.

Um den Umgang mit der ungewollten Schwangerschaft und die Abbruchentscheidung näher zu verstehen, seien im Rahmen der ELSA-Studie 25 qualitative episodische Interviews ausgewertet worden. „Unsere Ana­lyse identifiziert vier verschiedene Typen von Entscheidungsmustern, die sich zum Zeitpunkt der Feststellung der Schwangerschaft und der damit verbundenen aktuellen Lebenssituation und -planung der Frauen unter­scheiden.“ Diese Typen stünden für unterschiedliche Lebensphasen und biografische Themen.

„Es wird deutlich, dass sich die Entscheidungsmuster über die Zeit verändern können, abhängig davon, wie das Leben der Frau verläuft und welche Ziele sie als wichtig erachtet“, so Wyrobisch-Krüger. Eine Frau, die sich in ihrem Leben zunächst mal orientieren wolle und daher ihre Schwangerschaft abbreche, könne etwa bei einer späteren ungewollten Schwangerschaft den Wunsch haben, ihre bis dahin erreichten Lebensziele zu schützen.

Somit könne sie im Laufe des Lebens unterschiedlichen Typen zugeordnet werden. „Ein Abbruch der Schwan­gerschaft kann als Möglichkeit beziehungsweise als Chance verstanden werden, ihre Lebensplanung hinsicht­lich beruflicher oder familiärer Vorstellungen zu verwirklichen beziehungsweise zu bewahren.“

Ungewollt schwangere Frauen in Deutschland sehen sich zudem noch mit vielen Barrieren konfrontiert. „So wohnen etwa 4,5 Millionen Menschen in Deutschland außerhalb einer angemessenen Erreichbar­keit für eine Einrichtung für einen Schwangerschaftsabbruch, die bei 40 Minuten Fahrzeit mit dem Auto liegt“, sagte Rona Torenz von der Hochschule Fulda. Dies entspreche einem Anteil von 5,4 Prozent an der gesamten deutschen Bevölkerung.

„Unsere Berechnungen haben ergeben, dass das in 85 von 400 Landkreisen der Fall ist.“ 43 der 85 Landkreise liegen im Bundesland Bayern und je acht Landkreise in Nordrhein-Westfalen, Rhein­land-Pfalz und Baden-Württemberg.

Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen haben der Studie zufolge dagegen einen hohen Versorgungsgrad.

Deutschlandweit gebe es derzeit 1.103 Stellen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen – dies sei ein Rückgang von mehr als 40 Prozent in 20 Jahren, so Torenz. „Seit 2018 hat der Rückgang jedoch abgenommen. So gab es von Ende 2018 bis Ende 2023 bundesweit insgesamt einen Rückgang von nur fünf Prozent.“

Generell gelte, dass in den nördlichen und östli­chen Bundesländern eine bessere Verfügbarkeit von Einrichtungen für einen Schwangerschaftsab­bruch bestehe als in den südlichen und westli­chen Bundesländern.

„Es gibt zudem eine ungleichmäßige Verteilung der Schwangerschaftsabbrüche auf die Melde­stellen und es verdichten sich Hinweise auf re­gionale Problemlagen, insbesondere in Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg“, so die Wissenschaftlerin.

Hier deute sich eine Konzentration vieler Abbrü­che auf wenige Meldestellen an – bei gleichzeitig geringer Versorgungsdichte und eingeschränkten Erreichbarkeiten.

„Allerdings müssen wir sagen, dass die Datenlage unzureichend ist, um regionale Versorgungszu­gänge hinsichtlich der Verfügbarkeit und Erreich­barkeit wirklich kleinräumig bewerten zu können“, räumte sie ein.

57,7 Prozent der Befragten (n=340) fanden es der ELSA-Studie zufolge dennoch „sehr leicht“ und 22,4 Prozent (n=132) „eher leicht“, eine Einrich­tung für den Schwangerschaftsabbruch zu finden.

Insgesamt stießen jedoch 58,1 Prozent der Befragten (n=316) auf Barrieren im Zugang zu Informationen zu Abbrucheinrichtungen.

Viele erhielten sie von der Beratungsstelle, jede dritte Frau erhielt sie von ihrer eigenen Ärztin / ihrem eigenen Arzt, berichtete Hahn. Zehn Prozent hätten die Adresse über Webseiten und Suchmaschinen gefunden.

Die offizielle Liste der Bundesärztekammer (BÄK) hätte mit 3,4 Prozent nur einen sehr geringen Anteil ausgemacht. „Mehr als ein Viertel der Befragten musste allerdings mehr als eine Praxis oder Klinik für einen Termin zum Abbruch kontaktieren“, erklärte Hahn.

„Die Zugangsbarrieren unterscheiden sich allerdings regional“, verdeutlichte auch sie. In Regionen mit gerin­ge­rem Versorgungsgrad sei die Anzahl an Barrieren größer und der Zugang zu einem Versorgungsangebot dann dementsprechend auch schwerer. Konkret heiße das, es seien weitere Wege zurückzulegen.

Teilweise seien auch die Kosten für den Abbruch sowie die zusätzlichen Kosten höher als in den Regionen, die besser versorgt sind. 45 Prozent der Betroffenen gaben an, das sie sehr leicht für die Kosten des Abbruchs auf­kommen konnten, für 21,9 Prozent der Frauen war es schwer oder eher schwer.

An der ELSA-Studie beteiligt waren neben der Hochschule Fulda und dem Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg die Hochschule Merseburg, die Freie Universität Berlin, die Hochschule Nordhausen sowie die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm.

ER

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