Arzneimittelausgaben steigen wegen teurer neuer Präparate weiter an

Berlin – Die Arzneimittelausgaben in Deutschland sind im Jahr 2022 weiter angestiegen: um 5,2 Prozent auf 52,9 Milliarden Euro. Nach den Kosten für die Krankenhäuser (88,1 Milliarden Euro) nehmen sie damit den zweitgrößten Kostenblock innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein.
Grund dafür ist der weiterhin anhaltende Anstieg der Preise für neue patentgeschützte Arzneimittel. Das geht aus dem Arzneiverordnungs-Report (AVR) 2023 hervor, der vor kurzem erschienen ist. Der AVR basiert auf den Verordnungsdaten des GKV-Arzneimittelindexes für ambulante Patienten, der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) erstellt wird.
Enthalten sind die Nettokosten der Arzneimittel, die sich aus dem Bruttoumsatz abzüglich der gesetzlichen Hersteller- und Apothekenabschläge ergeben. „Patentgeschützte Arzneimittel sind seit vielen Jahren Hauptursache der steigenden GKV-Medikamentenausgaben“, heißt es im AVR. „Ihre Gesamtumsätze sind von neun Milliarden Euro im Jahre 2001 auf 29 Milliarden Euro im Jahre 2022 gestiegen. Sie erreichen somit inzwischen einen Umsatzanteil am Gesamtmarkt von 51,7 Prozent.“
Bei den verordneten definierten Tagesdosen (Defined Daily Dose, DDD) nähmen die Patentarzneimittel dabei gerade einmal einen Anteil von 6,7 Prozent am Gesamtvolumen ein. „Dementsprechend liegen die durchschnittlichen DDD-Kosten 16-fach höher für die unter Patentschutz stehenden Arzneimittel im Vergleich zu den patentfreien Arzneimitteln“, so die Autoren des AVR.
Die Gesamtzahl ärztlicher Verordnungen lag im Jahr 2022 bei 726 Millionen. Patentgeschützte Arzneimittel machten weniger als 50 Millionen Verordnungen aus. „Seit dem Inkrafttreten des Preismoratoriums von 2010 sind Umsatzsteigerungen durch höhere Preise allein bei neu eingeführten Produkten möglich“, heißt es zur Erklärung.
„Die pharmazeutischen Unternehmer haben auch 2022 diese Strategie konsequent verfolgt.“ Allerdings sei mit Steigerung des Umsatzes um 1,5 Milliarden Euro (plus fünf Prozent) im Vergleich zum drastischen Anstieg von zwölf Prozent im Vorjahr die Teuerung 2022 geringer ausgefallen.
Onkologika mit höchstem Umsatz
An der Spitze der umsatzstärksten Arzneimittelgruppen stehen wie in den Vorjahren mit deutlichem Abstand die Onkologika, deren Nettokosten 2022 wie im Vorjahr 10,6 Milliarden Euro betrugen (siehe Grafik).
Neben den Fertigarzneimitteln entfalle dabei ein relevanter Anteil auf Rezepturarzneimittel, heißt es im AVR. Innerhalb der Onkologika hatten monoklonale Antikörper einen Umsatz von 4,7 Milliarden Euro und Proteinkinaseinhibitoren einen Umsatz von 2,8 Milliarden Euro.
„Das mit deutlichem Abstand größte DDD-Verordnungsvolumen mit einem Anteil von circa 62 Prozent der Onkologika entfällt weiterhin auf die Gruppe der Hormonantagonisten (Antiöstrogene, Aromatasehemmer, Gonadorelinanaloga und Antiandrogene), die zur Behandlung des Mammakarzinoms und des Prostatakarzinoms eingesetzt werden“, heißt es im AVR.
Nach den Onkologika sind die Immunsuppressiva mit Nettokosten von 6,1 Milliarden Euro die zweitteuerste Arzneimittelgruppe, gefolgt von den Antidiabetika (3,6 Milliarden Euro), den Antithrombotika (3,2 Milliarden Euro) und den Dermatika (3,0 Milliarden Euro).
Viele Onkologika unter den teuersten Präparaten
„Die aktuelle Entwicklung der 30 nach Nettokosten führenden Präparate verdeutlicht weitere Schwerpunkte der Ausgabendynamik des Arzneimittelmarktes“, so die Autoren des AVR. „Die Nettokosten dieser Präparate sind 2022 deutlich angestiegen (um 9,6 Prozent) und damit wiederum stärker als die Kosten des Gesamtmarkts, der um 5,2 Prozent angestiegen ist.“
Im Jahr 2022 ist mehr als ein Viertel der gesamten Kosten des GKV-Arzneimittelmarkts durch die 30 führenden Arzneimittel verursacht worden.
Die Onkologika sind mit elf Arzneimitteln und Nettokosten von 5,1 Milliarden Euro die größte Gruppe der umsatzstärksten Präparate. Die umsatzstärksten Onkologika im Jahr 2022 waren Keytruda, Darzalex, Xtandi, Opdivo, Imbruvica, Jakavi, Zytiga, Revlimid, Erleada, Tecentriq und Ibrance.
Während es 2021 mit Novaminsulfon Lichtenstein – aufgrund sehr hoher Verordnungszahlen – gerade noch ein chemisch definiertes Generikum auf die Liste der 30 kostenintensivsten Präparate geschafft hatte, ist dieses Generikum jetzt nicht mehr in den Top 30 vertreten.
Einen Wechsel auf der Liste der 30 umsatzstärksten Arzneimittel sei in der über viele Jahre nach Nettokosten sehr teuren Gruppe der TNF-Alpha-Inhibitoren zu verzeichnen gewesen, so die Autoren des AVR. Denn weder das Originalpräparat Humira mit dem monoklonalen Antikörper Adalimumab noch dessen Biosimilars fänden sich 2022 auf dieser Liste.
Hoher Generikaanteil
„Gegensätzlich verhielten sich Umsatz- und Verordnungsvolumina von Generika und Orphan Drugs“, heißt es im AVR. Während Orphan Drugs, die zur Behandlung seltener Erkrankungen eingesetzt werden, 2022 trotz des relativ geringen Verordnungsvolumens von 32,4 Millionen DDD ein Umsatzvolumen von 7,1 Milliarden Euro erreichten, verringerte sich der Kostenanteil der Generika trotz eines hohen Verordnungsanteils am gesamten Arzneimittelmarkt von 77,3 Prozent und betrug 2022, ähnlich wie in 2021, nur noch 26,5 Prozent des Gesamtumsatzes.
Seit 2005 ist das Verordnungsvolumen der Generika dem AVR zufolge auf das Dreifache angestiegen und liegt jetzt 13-fach höher als das Verordnungsvolumen der patentgeschützten Arzneimittel. Aus der gegenläufigen Entwicklung der Verordnungsvolumina ergebe sich 2022 erneut ein enormer Unterschied der mittleren DDD-Nettokosten der patentgeschützten Arzneimittel mit 8,56 Euro im Vergleich zu den DDD-Kosten der Generika und Biosimilars inklusive Erstanbieterpräparaten, die lediglich 0,53 Euro betrugen. „Der Vergleich der Tagestherapiekosten offenbart das wesentliche Problem der Kostenentwicklung der Arzneimittel im deutschen GKV-Versorgungsalltag“, so die Autoren des AVR.
Oft kein Zusatznutzen
„Die hohen Preise neuer Arzneimittel sind kein deutsches Phänomen, sondern werden in vielen Ländern als Belastung für die Patienten und die Gesundheitssysteme angesehen“, heißt es im AVR. Auch in den USA waren dem Report zufolge die Ausgaben für neue Produkte der wesentliche kostentreibende Faktor für die gestiegenen Arzneimittelausgaben im Jahre 2019.
Insbesondere kritisiert würden die immens gestiegenen Kosten neuer Onkologika, weil sie nicht nur sehr teuer seien, sondern ihr (Zusatz)-Nutzen vielfach unsicher sei, da vor der häufig beschleunigten Zulassung lediglich eine Beeinflussung von Surrogatendpunkten – zum Beispiel Ansprechrate der Tumorerkrankung, progressionsfreies Überleben) hätte gezeigt werden können, heißt es.
„Aktuelle Untersuchungen aus den USA belegen zudem, dass die von der FDA beschleunigt zugelassenen Onkologika trotz negativer Ergebnisse in Studien nach der Zulassung häufig über mehrere Jahre ihre formale Zulassung behalten und auch in Leitlinien trotz der nicht erbrachten Nutzenbelege oft weiterhin empfohlen werden“, so der AVR.
Der Trend der vergangenen Jahre zeigt sich dabei auch bei den Arzneimitteln, die 2022 in Deutschland neu auf den Markt gekommen sind. Von den 46 Präparaten nahmen die Onkologika mit 18 Arzneimitteln die größte Gruppe an.
Bei elf von 17 bewerteten Onkologika konnte der Gemeinsame Bundesausschuss im Rahmen der frühen Nutzenbewertung allerdings nur einen nicht belegten oder nicht quantifizierbaren Zusatznutzen feststellen. Insgesamt konnte bei weniger als 50 Prozent der neuen Arzneimittel (21 von 46) ein Zusatznutzen festgestellt werden.
Links
Arzneiverordnungs-Report 2023 (Hrsg.: Wolf-Dieter Ludwig, Bernd Mühlbauer, Roland Seifert)
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Im AVR werden in jedem Jahr auch die Einsparungen beziffert, die sich durch gesetzliche Maßnahmen ergeben haben. Demnach erzielen die Krankenkassen mehr als acht Milliarden Euro Einsparungen pro Jahr durch die Bildung von Festbetragsgruppen.
Durch die Preisverhandlungen neuer Arzneimittel infolge durch Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) sind – den Angaben des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller zufolge – im Jahr 2022 zudem 6,6 Milliarden Euro an Arzneimittelausgaben eingespart worden.
Durch Rabattverträge, die Krankenkassen mit Pharmafirmen schließen können, ergab sich im Jahr 2022 eine Reduktion der Arzneimittelausgaben von etwa 5,6 Milliarden Euro. „Zu kritisieren ist allerdings die völlig fehlende Transparenz, da die rabattierten Arzneimittelpreise nicht zugänglich und somit rechtlich wie auch wissenschaftlich nicht überprüfbar sind“, heißt es im AVR.
„Wesentlich gravierender ist, dass dieses in seinem Einspareffekt hochwirksame Instrument mitverantwortlich sein könnte für die inzwischen omnipräsenten Lieferengpässe vor allem bei niedrigpreisigen Generika, aber auch bei Onkologika, und damit für die regelmäßigen Versorgungsnotstände in Deutschland.“
Aufgrund der beschriebenen Intransparenz sei der Zusammenhang mit den Rabattverträgen aber nicht schlüssig zu belegen. „Angesichts der Tatsache, dass das Preisniveau patentgeschützter Arzneimittel in Deutschland zu den höchsten im europäischen Vergleich zählt, stellt sich die Frage, ob bei der Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven durch Rabattverträge nicht am falschen Ende gespart wird“, heißt es im AVR.
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