Behandlungsfehler: Schadensrisiko bleibt gering

Berlin – Die Zahl ärztlicher Fehler in der Versorgung bleibt im Promillebereich: 2017 wurde in 1.783 Fällen ein Behandlungsfehler von den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Landesärztekammern anerkannt. Dies geht aus der Statistik hervor, die die Bundesärztekammer heute in Berlin vorgelegt hat.
Demnach wurden im vergangenen Jahr 11.100 Fälle an die Einrichtungen der Landesärztekammern herangetragen, knapp 500 weniger als im Vorjahr. Nach Angaben von Andreas Crusius, Vorsitzender der Ständigen Konferenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Bundesärztekammer, liegen die Fälle von möglichen Behandlungsfehlern darüber: Er schätzt, dass mit den Fällen, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen verfolgt sowie den anhängigen Gerichtsverfahren, es etwa 40.000 mögliche Fälle von Behandlungsfehlern in Deutschland gibt.

Aus den Fällen, die an die Einrichtungen der Landesärztekammern herangetragen wurden, sind im vergangenen Jahr 7.307 Entscheidungen gefallen. Dabei wurden bei 69,7 Prozent der Fälle keine Behandlungsfehler festgestellt (5.094 Fälle), berichtete Kerstin Kols, Geschäftsführerin der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern. In 5,88 Prozent der Fälle – das sind in 430 – wurde zwar ein Behandlungsfehler bejaht, aber ein Zusammenhang zwischen dem Fehler und einer möglichen Schädigung des Patienten konnte nicht festgestellt werden.
Für diese Fälle konnten Patienten keine Ansprüche gegenüber der Haftpflichtversicherung des Arztes oder des Krankenhauses geltend machen. In 1.783 Fällen (24,4 Prozent) wurde der Behandlungsfehler anerkannt und die Ansprüche der Patientinnen und Patienten als begründet angesehen. Ein Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen kann im Regelfall etwa 17 Monate dauern.
Nach der Analyse der Geschäftsstelle der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern in Hannover, die von der Bundesärztekammer dafür beauftragt wurde, betreffen die meisten Fehlermeldungen auch in diesem Jahr das Krankenhaus. In 75,5 Prozent der Fälle wird hier eine Behandlung angefragt, der Rest (24,5 Prozent) entfällt auf medizinische Versorgungszentren (MVZ) und Arztpraxen.
In den Kliniken waren vor allem die Fachbereiche Unfallchirurgie und Orthopädie mit 2.108 Fällen bei 6.331 Krankenhausbeteiligungen an Haftpflichtfragen beteiligt und damit Spitzenreiter aller Fachabteilungen. Das sind 35 Fälle mehr als im vergangenen Jahr. Darauf folgen die Fachabteilungen Allgemeinchirurgie (830), Innere Medizin (562), Frauenheilkunde (366), Neurochirurgie (266), Anästhesiologie und Intensivmedizin (226) sowie Geburtshilfe (195), Urologie (186), Kardiologie (173) und Neurologie (161).
Im niedergelassenen Bereich bei Praxen und MVZ sind bei 2.054 Haftpflicht- und Schlichtungsverfahren die Zahl der beteiligten Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie am höchsten (486). Danach folgen Hausärzte (276), Internisten (191), Allgemeinchirurgen (183), Augenheilkunde (176), die Frauenheilkunde (131), die Radiologie (90) und Haut- und Geschlechtskrankheiten (74).
Diese Zahlen müssten allerdings unter dem Eindruck der Vielzahl des Versorgungsgeschehens bedacht werden: So zählt das Statistische Bundesamt jährlich rund 19,5 Millionen Behandlungsfälle in Krankenhäusern sowie etwa eine Milliarde Arztkontakte in Praxen und MVZ. „Gemessen an dieser enormen Gesamtzahl der Behandlungsfälle liegt die Zahl der festgestellten Fehler im Promillebereich“, sagte Crusius, der auch Präsident der Landesärztekammer Mecklenburg-Vorpommern ist.

Auch müssten die Zahlen unter dem Aspekt eines immer stärker von Behandlungsdruck und ökonomischen Vorgaben geprägten Gesundheitssystems betrachtet werden, so Crusius. „Krankenhausdirektoren erhöhen den Druck immer weiter, Ärzte und Pfleger sind am Limit. Die Politik muss eingreifen, damit der Missbrauch durch Gewinnmaximierung der Krankenhäuser auf Kosten der Medizin und Pflege nicht mehr stattfindet.“
Die Ärzteschaft habe sich in den vergangenen 40 Jahren dafür eingesetzt, die Fehlersysteme in der Medizin zu verbessern und auszubauen. Dazu gehören Qualitätszirkel, Peer-Reviews, Tumorkonferenzen oder Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen sowie anonyme Fehlermeldesysteme. Auch die Daten aus den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen fließen ein: So werden alle Daten mithilfe des Medical Error Reporting Systems (MERS) bundesweit erfasst und entsprechend ausgewertet, die Ergebnisse fließen auch in Veranstaltungen zur Qualitätssicherung, in Fortbildungen sowie in Publikationen für die einzelnen Fachgebiete ein.
Diese Art der Fehleraufarbeitung sei in europaweit einzigartig, erklärte Walter Schaffartzik, Vorsitzender der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, bei der Vorstellung der Ergebnisse. „Erfreulicherweise haben die Ärzte in den letzten Jahren eine Kultur des kritischen, auch selbstkritischen Umgangs mit den ihnen unterlaufenen Behandlungsfehlern entwickelt“, sagte er weiter.
„Am wichtigsten für die Patientensicherheit ist aber, dass wir Ärztinnen und Ärzte uns tagtäglich unserer enormen Verantwortung bewusst sind und uns ständig vergegenwärtigen, dass zwischen heilen und schaden oft nur ein schmaler Grat liegt“, erklärte Crusius. „Wir Ärzte können Patienten keine Heilung versprechen, wohl aber, dass wir uns mit ganzer Kraft für ihre Heilung, für die Qualität ihrer Behandlung und damit für ihre Sicherheit einsetzen“, so Crusius weiter.
Die Verfahren bei vermuteten Behandlungsfehlern vor Schiedsstellen und Gutachterkommissionen haben deutliche Vorteile für Patienten und Ärzte. Die Verfahren seien niedrigschwellig und für alle Beteiligten unbürokratisch. Patienten müssten lediglich einen formlosen Antrag stellen. Das Verfahren sei für sie kostenfrei.

„Das Gerichtsverfahren selbst und seine Dauer können für die Patienten, wie auch für die Ärzte bedrückend und kräftezehrend sein“, sagte Schaffartzik. Bei den Gesprächen und Schlichtungsversuchen vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen werden Ärzte des jeweiligen Fachgebietes zur Lösung der Streitfrage hinzugezogen, die „nicht nur über die notwendige medizinische Expertise, sondern auch über eine jahrelange Erfahrung als medizinische Gutachter verfügen“, erklärt Schaffartzik. „Bei einem Gerichtsverfahren müssen sich die Richter auf die Ausführungen des Sachverständigen verlassen, die sie letztlich medizinisch nicht bewerten können.“
Nach seinen Angaben würden Gutachter, die für die Landesärztekammern tätig sind, deutlich intensiver auf ihre fachliche Eignung geprüft als vor Gericht. Vor den Gutachtern liege auch die Aufgabe, das Behandlungsgeschehen danach zu beurteilen, was der medizinische Standard zum Zeitpunkt der Behandlung war. „Wenn es um Fälle geht, die weit zurückliegen, ist das oft eine große Herausforderung.“
Diese Sichtweise bestätigte auch Uwe Brocks, Fachanwalt für Medizinrecht aus Hamburg. Auch aus seiner anwaltlichen Praxis habe er gute Erfahrungen mit den Schlichtungsstellen gemacht, sodass er das Schlichtungsverfahren einem Gerichtsprozess vorzieht. So sei die Dauer eines Verfahrens vor Schlichtungsstellen mit etwa 17 Monaten relativ kurz. „Im Schnitt dauert ein Prozess vor Gericht etwa sechs Jahre. Ich habe aber auch Fälle, da läuft das Verfahren seit zwölf Jahren“, so Brocks.
Er schätze auch die Objektivität, mit der die Aufklärung in möglichen Schadensfällen betrieben werde sowie die dahinterstehende medizinische und juristische Expertise. „Wenn es nach einem Schlichtungsverfahren doch vor Gericht gehe, erweise sich die medizinisch-fachliche Bewertung des Behandlungsgeschehens fast ausnahmslos als gerichtsfest“, stellte Brocks heraus. Auch sei das Verfahren ohne einen Gerichtsprozess besser für das Verhältnis zwischen Patienten, Kliniken und Ärzten. Denn in einem Schlichtungs- oder Gutachterverfahren könne noch miteinander gesprochen werden, eine Klage löse große Abschreckungsmechanismen bei Ärzten und Krankenhäusern aus.
Unzufrieden über die Ergebnisse der Fehlerstatistik zeigten sich die Grünen im Bundestag sowie die Deutsche Stiftung Patientenschutz. So sage die Statistik wenig aus: „Denn Ärztekammern, Krankenkassen und Gerichte sammeln Behandlungsfehler nebeneinander her. Die Gesamtzahl der Behandlungsfehler lässt sich nur schätzen“, erklärte Eugen Brysch von der Stiftung in einer Mitteilung. Er forderte ein bundeseinheitliches Zentralregister, in dem auch die Fehler in der Pflege erfasst werden.
Die Grünen fordern eine Beweislastumkehr für Patienten. „Damit die Opfer von Behandlungsfehlern eine faire Chance vor Gericht haben, muss die Beweislast für Geschädigte endlich herabgesetzt werden“, erklärte Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Ebenso forderte sie einen Härtefallfonds, mit dem Patienten unterstützt werden, bei denen der Fall ungeklärt ist. „Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Etablierung eines Härtefallfonds zügig und ernsthaft prüft.“
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