Ärzteschaft

„Deutschland ist auf die psychosoziale Versorgung so vieler geflüchteter Menschen nicht vorbereitet“

  • Freitag, 11. März 2022

Berlin – Vor allem Frauen und Kinder kommen auf der Flucht vor Russlands Angriffskrieg in der Ukraine in Deutschland an. Sie fliehen vor Bomben, Panzern und einer zerstörten Infrastruktur in ihrer Heimat. Die Geflüchteten müssen nicht nur untergebracht werden, sondern auch medizinisch versorgt und ge­gebenenfalls psychosozial betreut oder psychotherapeutisch behandelt werden.

In Deutschland gibt es 47 Psychosoziale Zentren, die sich in der Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) organisieren, und auf die Versorgung von Geflüchteten mit Traumafolgestörungen spezialisiert haben. Die Psychosozialen Zentren werden vor große Herausforderung gestellt werden, sagt BAfF-Geschäftsleiter Lukas Welz.

Lukas Welz /Florian Krauß
Lukas Welz /Florian Krauß

5 Fragen an BAfF-Geschäftsleiter Lukas Welz

DÄ: Wie hoch schätzen Sie den Bedarf an psychosozialer / psycho­therapeutischer Hilfe für die geflüchteten Menschen ein?
Welz: Den tatsächlichen Bedarf können wir momentan noch nicht abschätzen, internationale Studien gehen von einem psychosozia­len Versorgungsbedarf von 30 Prozent unter geflüchteten Men­schen aus.

Die Psychosozialen Zentren rechnen fest damit, dass die Nach­fra­ge an psychosozialer Begleitung und Therapie in den nächsten Tagen und Wochen eklatant ansteigen wird.

Mit der zunehmenden Brutalität des russischen Angriffskriegs flie­hen immer mehr Menschen vor dem Krieg und seiner erbarmungs­losen Zerstörungskraft. Familien werden getrennt, da die Männer in der Ukraine bleiben müssen.

Das alles sind Erfahrungen von Gewalt, Verlust und Schmerz, die Menschenschwer belasten und zu einem zunehmenden psychosozialen Versorgungsbedarf führen.

DÄ: Wie kann den Flüchtlingen bei der Ankunft in Deutschland am besten geholfen werden beziehungs­weise ein Behandlungsbedarf erkannt werden?
Welz: Die meisten Menschen, die aus der Ukraine fliehen, sind vor ihrer Ankunft in Deutschland an ver­schiedenen Stellen durch humanitäre Hilfe unterstützt worden. Aber in den Erstaufnahmeländern wie Polen findet die Identifizierung von traumatisierten Menschen und eine Krisenversorgung aufgrund mangelnder Kapazitäten unstrukturiert statt.

Auch in Deutschland fehlt es bislang an einem bundeseinheitlichen Konzept zur Identifizierung und be­darfsgerechten Versorgung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter, darunter traumatisierter Menschen. Wichtig wäre die Einbindung kompetenter Berufsgruppen und eine von Beginn an rechtsfeste Doku­men­tation von Schutzbedürftigkeit.

Diejenigen, die als Ersthelferinnen und -helfer in den Ankunfts- und Unterbringungseinrichtungen tätig sind, müssen dabei unterstützt werden, Bedarfe zu erkennen und Stellen zur Weitervermittlung zu nennen.

DÄ: Ist Deutschland ausreichend vorbereitet auf die psychosoziale/psychotherapeutische Versorgung so vieler geflüchteter Menschen?
Welz: Deutschland ist auf diese Situation nicht ausreichend vorbereitet. Zwar gibt es im Vergleich zu an­deren europäischen Ländern, etwa durch die derzeit 47 Psychosozialen Zentren eine bundesweite Struk­tur, die jährlich etwa 25.000 Personen versorgt.

Doch diese decken nur einen kleinen Teil des eigentlichen Bedarfs ab und schon jetzt ist die Finanzie­rung der Psychosozialen Zentren prekär. Die zusätzlich entstehenden Bedarfe sind nicht mehr zu bewäl­tigen, wenn es nicht zu einer deutlichen Unterstützung von Bund, Ländern und Kommunen in dieser aku­ten Situation kommt.

Der Bund steuert derzeit nur etwa neun Prozent der Finanzierung dieser zentralen Aufgabe in der Versor­gung schutzbedürftiger Menschen bei, obwohl Deutschland sich im Rahmen des UN-Sozialpakts und der EU-Aufnahmerichtlinie dazu verpflichtet hat, gesundheitliche Versorgung für alle Menschen sicherzu­stellen und besonders schutzbedürftige Personen bei der Ankunft zu identifizieren und angemessen zu versorgen.

Die Psychosozialen Zentren werden versuchen, jedem und jeder zu helfen, der oder die Hilfe benötigt. Die notwendige Expertise im Umgang mit Kriegstraumata, die transkulturelle psychosoziale Arbeit und die Unterstützung durch Sprachmittlung ist vorhanden. Es braucht aber schnell eine finanzielle und personelle Aufstockung in der Struktur, da die Kapazitätsgrenzen schon vor der Ukraine-Krise erreicht waren.

Die Zentren bieten ein niedrigschwelliges, multiprofessionell organisiertes Leistungsspektrum an. Die Teams sind divers und setzen sich aus (psycho-)therapeutischen, sozialarbeiterischen, rechtlichen, ärzt­lichen und weiteren Fachkräften zusammen. Sie sind in allen Bundesländern vertreten.

DÄ: Gibt es ausreichend ukrainisch-sprachige Therapeuten beziehungsweise Sprachmittler?
Welz: Bislang war der Bedarf an ukrainischsprachigen Menschen, die aufgrund von Gewalt, Krieg oder Folter nach Deutschland gekommen sind, gering. Viele haben nach den Maidan-Protesten 2014 und den darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes in der Ukraine und den Nachbarländern Unterstützung erfahren.

Das ist jetzt anders. In einigen Psychosozialen Zentren gibt es Mitarbeitende, die Ukrainisch oder Russisch sprechen. Angesichts der russischen Aggression wird der Bedarf an spezifischer ukrainischer Übersetzung aber zunehmen, hier müssen noch Kapazitäten ausgebaut werden.

DÄ: Die Kostenübernahme der Leistungen von qualifizierten Sprachmittlern oder Dolmetschern ist oft­mals langwierig. Seit langem wird gefordert, dass die gesetzliche Krankenversicherung dies finanzieren soll. Wie ist das in den Psychosozialen Zentren geregelt?
Welz: Die Psychosozialen Zentren arbeiten schon sehr lange mit Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern in Therapie und Beratung zusammen und machen damit sehr gute Erfahrungen. Aufgrund fehlender struktureller Finanzierungsmöglichkeiten, erfolgt die Finanzierung in vielen Psychosozialen Zentren weiterhin über Projektgelder oder Spenden.

In einigen Bundesländern können Sprachmittlungskosten über Landesmittel oder spezielle Sprachmitt­lungs-Fonds abgerechnet werden, wie beispielsweise in Bremen, Thüringen, Niedersachsen, Hamburg, Baden-Württemberg und NRW. Als Übergangslösungen sind diese Regelungen praktikabel, allerdings können sie einen gesetzlichen Anspruch auf Sprachmittlung, der den diskriminierungsfreien Zugang zu Versorgung nachhaltig sichert, nicht ersetzen.

Die BAfF fordert langfristig die Sicherstellung von Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung über einen gesetzlich verankerten Anspruch. Damit die Klientinnen in den Psychosozialen Zentren von diesem Anspruch profitieren können, müsste der gesetzliche Anspruch über das Asylbewerberleistungsgesetz insbesondere für Personen mit Aufenthaltsgestattung oder Duldung in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes erreichbar sein und die Kostenübernahme für sie verbindlich regeln.

PB

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