Deutschland startet im EU-Vorsitz: Merkel befürchtet „ernste Zeit“

Berlin – Zum Start der EU-Ratspräsidentschaft hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Deutschland und Europa auf schwere Zeiten und eine wachsende Arbeitslosigkeit eingestimmt. „Wir kommen in eine sehr ernste Zeit, das muss ich ganz deutlich sagen“, betonte die CDU-Politikerin heute im Bundestag. In Brüssel erwartet sie bei Topthemen hohe Hürden: beim milliardenschweren Corona-Aufbauplan und beim Handelspakt mit Großbritannien nach dem Brexit.
Deutschland hat den Vorsitz der 27 EU-Staaten zum heutigen 1. Juli von Kroatien übernommen. Damit verbunden ist die Leitung der Ministerräte in den kommenden sechs Monaten sowie die Vermittlung in EU-Verhandlungen. Gleichzeitig hat die Bundesrepublik auch für einen Monat den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat.
Das erste große Ziel in der EU ist, noch im Juli den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und ein milliardenschweres Konjunkturprogramm zuwege zu bringen. Doch Merkel warnte: „Ich muss Ihnen sagen, dass die Positionen noch weit auseinander liegen.“ Vor einem geplanten Gipfel am 17. und 18. Juli werde es noch viele vorbereitende Gespräche geben.
Eine Herausforderung sei zudem das künftige Verhältnis zu Großbritannien. „Die Fortschritte in den Verhandlungen sind hier, um es zurückhaltend zu formulieren, sehr übersichtlich“, sagte Merkel. Sie werde sich für eine Lösung stark machen. Doch müsse sich die EU auch auf ein Scheitern der Verhandlungen vorbereiten. In dem Fall droht zum Jahresende ein harter wirtschaftlicher Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen.
Mehrere weitere Bundesminister beschrieben ihre eigenen Schwerpunkte für die Ratspräsidentschaft. Für Sozialminister Hubertus Heil sind das faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen. „Die EU muss noch stärker als bisher wirtschaftliche Stärke mit sozialem Schutz verbinden“, sagte der SPD-Politiker. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will Zukunftstechnologien voranbringen, insbesondere „grünen“ Wasserstoff.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) erwartet für September einen Vorschlag der EU-Kommission zur Asylrechtsreform und formulierte den Ehrgeiz, dass noch in diesem Jahr eine politische Verständigung zustandekommen soll. Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) will den Tier- und Umweltschutz in der Landwirtschaft voranbringen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte bereits angekündigt, er wolle sich für eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des Gesundheitsschutzes und der Infektionsprävention einsetzt. Insbesondere die Pläne für den Aufbau eines europäischen Gesundheitsdatenraumes sollten vorangetrieben werden. Die Bundesregierung hatte auch erklärt, die europäische Souveränität bei der Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten ausbauen zu wollen.
Wünsche aus dem Gesundheitswesen
In den vergangenen Tagen hatten die Akteure aus dem Gesundheitswesen immer wieder ihre Wünsche an die Zeit der Ratspräsidentschaft an die Bundesregierung herangetragen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) forderte erst gestern, die EU-Ratspräsidentschaft unter anderem für eine unbürokratischere grenzüberschreitende stationäre Versorgung zu nutzen. Der Marburger Bund (MB) regte an, der grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen einen höheren Stellenwert zu geben.
„Wir brauchen europaweit abgestimmte Meldestrukturen bei der Nachverfolgung von Infektionsketten“, forderte der Präsident der Bundesärztekammer Dr. med. (I) Klaus Reinhardt. „Wir müssen die jeweiligen Corona-Warn-Apps mit denen der anderen Mitgliedstaaten kompatibel machen. Und wir sollten dringend gemeinsame Konzepte für die Bevorratung, für die Beschaffung und vor allem für die Produktion von Schutzausrüstung, Medikamenten und Impfstoffen erarbeiten.“
Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), begrüßte heute die Vorhaben Spahns. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Analyse von Daten spielten sowohl bei der Bewältigung als auch bei der Prävention von Krankheiten eine immer wichtigere Rolle.
„Die Coronakrise macht die Notwendigkeit einer noch intensiveren Zusammenarbeit auf europäischer Ebene besonders deutlich“, so Elsner. Die deutsche Politik habe im Rahmen des EU-Ratsvorsitzes nun die Chance, die Weichen hierfür zu stellen.
In Bezug auf die Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten wies Elsner darauf hin, dass allein die Zurückverlegung von Produktionsstätten nach Europa das Problem der Lieferengpässe nicht lösen werden.
„Wir brauchen kürzere Lieferketten, mehr Produktionsstandorte weltweit und eine digital vernetzte Lagerhaltung in Europa“, sagte sie. Dann gebe es die Chance, gemeinsam mit den europäischen Staaten die Versorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten und Schutzausrüstung sicherzustellen.
Von Hubertus Cranz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hieß es, für Themen wie Standortsicherung und verstärkte Digitalisierung im Gesundheitswesen sollten neue Lösungsansätze entwickelt werden. Wichtig sei die Stärkung der Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln.
„Die Produktion, die sich noch in Europa befindet, darf nicht noch weiter abwandern. Es gilt daher, international konkurrenzfähige Rahmenbedingungen für Unternehmen zu schaffen, die in Europa produzieren wollen.“
Der BAH bemängelte, dass das Thema der europaweiten standardisierten Nutzenbewertung innovativer Arzneimittel und Medizinprodukte (EU-HTA, Health Technology Assessment) in den Hintergrund gerückt ist. Man würde eine Wiederaufnahme in das Arbeitsprogramm begrüßen.
Industriepräsident Dieter Kempf mahnte die Bundesregierung, sich nicht zu verzetteln. „Der Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft darf nicht durch eine lange Wunschliste mit zu hohen Erwartungen gefährdet werden“, sagte Kempf. Die Bundesregierung müsse die Präsidentschaft konsequent auf die wirtschaftliche Erholung Europas ausrichten.
Die Grünen wünschen sich eine Klimapräsidentschaft. Zu ihren Forderungen zählt, das Klimaziel zu verschärfen: Bis 2030 solle die EU die Treibhausgase um 65 statt wie bisher geplant um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 drücken.
Die 27 EU-Staaten wechseln sich alle sechs Monate in der Präsidentschaft ab. Daneben gibt es noch den ständigen Ratspräsidenten, der die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs leitet. Das ist seit 2019 der Belgier Charles Michel.
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