Frankreich: Hohe Zahl von Fehlbildungen durch Valproinsäure

Paris – In Frankreich sind seit Ende der 1960er Jahre zwischen 2.150 und 4.100 Kinder mit Fehlbildungen geboren worden, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft das Antikonvulsivum Valproinsäure eingenommen haben. Zu diesem Ergebnis kommt eine pharmako-epidemiologische Studie der französischen Arzneimittelbehörde ANSM, die in Frankreich Wellen schlägt und auch in den benachbarten Ländern die Arzneimittelbehörden veranlasst, Schulungsmaßnahmen zu verstärken.
Frankreich war 1967 das erste Land, in dem Valproinsäure (als Depakine) zur Anfallsprophylaxe bei Epilepsie zugelassen wurde (in Deutschland 1973 als Ergenyl, in den USA 1978 als Depakine). Die antikonvulsive Wirkung von Valproinsäure war zuvor eher zufällig in Experimenten entdeckt worden, in denen Valproinsäure zunächst nur der Zusatzstoff war, um den getesteten Wirkstoff in Lösung zu halten.
Es stellte sich heraus, dass das Lösungsmittel und nicht der vermeintliche Wirkstoff bei den Versuchstieren die Krampfanfälle verhindert. Die guten antikonvulsiven Eigenschaften von Valproinsäure werden heute noch immer von Neurologen geschätzt. Es ist ein wichtiges Reservemittel, wenn neuere Antiepileptika keine Anfallsfreiheit erzielen.
Dass Valproinsäure bei intra-uterin exponierten Kindern schwere Fehlbildungen auslösen kann, wurde bereits Ende der 1960er Jahre vermutet. Spätere epidemiologische Studien bestätigten das um den Faktor zwei bis vier erhöhte Risiko. Schätzungsweise 6 bis 11 Prozent der intra-uterin exponierten Kinder kommen mit schweren Fehlbildungen, darunter Neuralrohrdefekte und Gaumenspalten, zur Welt.
Inzwischen gilt als erwiesen, dass Valproinsäure auch die neurokognitive Entwicklung beschädigt. In einer vielbeachteten Studie hatten intra-uterin mit Valproinsäure exponierte Kinder einen um 9 Punkte niedrigeren IQ als Kinder, deren Mütter mit Lamotrigin behandelt worden waren (NEJM 2009; 360: 1597-605). Eine spätere Untersuchung bestätigte, dass die Kinder auch im Grundschulalter Nachteile haben (Lancet Neurology 2012; 12; 244–252). Zwischen 30 und 40 Prozent der exponierten Kinder sollen betroffen sein.
US-Neurologen warnten bereits 2009 vor dem Einsatz von Valproinsäure bei Schwangeren – den sie aber in bestimmten Fällen als unvermeidlich betrachteten, da die Gefahr, der das Kind durch einen epileptischen Anfall der Schwangeren ausgesetzt ist, als höher eingestuft wird. Die FDA veröffentlichte 2011 eine Drug Safety Communication, die europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) empfahl Ende 2014 Risikominderungsmaßnahmen, bekräftigte aber, wie zuvor die FDA, dass es zu Valproinsäure manchmal keine Alternative gebe.
Diese Maßnahmen wurden auch von der französischen Arzneimittelbehörde ANSM umgesetzt. In diesem Zusammenhang wurde ein pharmako-epidemiologisches Studien-Programm begonnen. Der erste Teil wurde im August 2016 veröffentlicht. Es kam zu dem Ergebnis, dass zwischen 2007 und 2014 insgesamt 14.322 Kinder intra-uterin Valproinsäure ausgesetzt waren.
Der zweite Teil der Untersuchung, deren Ergebnisse jetzt vorliegen, umfasst den Zeitraum zwischen 2011 und 2015. Seit 2011 ist es möglich, durch den Datenabgleich von Versichertendaten zu ermitteln, wie viele der exponierten Kinder mit Fehlbildungen geboren wurden. Die ANSM gibt die Prävalenz mit 46,5 auf 1.000 Geburten an. Sie lag damit viermal so hoch wie bei den nicht intra-uterin exponierten Kindern (10,2 pro 1.000). Die Odds Ratio (OR) betrug 4,5 und war mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 3,3 bis 6,2 signifikant.
Im einzelnen erhöhte die intra-uterine Exposition mit Valproinsäure das Auftreten folgender Fehlbildungen: Spina bifida (OR 18,8), ventrikulärer Septumdefekt (OR 11,2), Vorhofseptumdefekt (OR 9,1) Atresie der Lungenarterie (OR 26,2), hypoplastischer linker Ventrikel (OR 17,9), Gaumenspalte (OR 5,2), Analatresie (OR 11,0), Hypospadie (OR 4,7) und präaxiale Polydaktylie (OR 10,8). Bei der Fallot-Tetralogie, der Lippen- oder Gaumenspalte und der Kraniosynostose waren die Assoziationen nicht signifikant.
Auch andere Antiepileptika erhöhten die Rate von Fehlbildungen, wenn auch deutlich weniger stark als Valproinsäure: Unter Lamotrigin kam es signifikant häufiger zu Vorhofseptumdefekten (OR 1,8) und nicht-signifikant häufiger zu ventrikulären Septumdefekten oder einer Aortenisthmusstenose. Für Carbamazepin wurde ein tendenzieller Anstieg der Lippen- oder Gaumenspalten gefunden. Pregabalin erhöhte signifikant die Zahl der Aortenisthmusstenose (OR 5,5) und tendenziell die Zahl der Vorhofseptumdefekte und Kraniosynostosen.
Für Clonazepam wurde ein signifikant höheres Risiko auf eine Mikrozephalie (OR 9,4) gefunden. Topiramat war mit einer erhöhten Zahl von Lippen-Kiefer-Spalten (OR 6,7) und einem tendenziell erhöhten Anstieg der Hypospadien (OR 3,4) assoziiert. Nach einer Exposition mit Phenobarbital kam es signifikant häufiger zu einem Ventrikelseptumdefekt (OR 9,8).
Neben der Epilepsie wird Valproinsäure auch zur Behandlung der bipolaren Störung eingesetzt. Die Dosis ist hier allerdings geringer. Dennoch dokumentiert die Studie eine erhöhte Zahl von Hypospadien (OR 3,8) und Kraniostenosen (OR 10,2). Für den Vorhofseptumdefekt und die Hypoplasie der rechten Herzkammer waren die Assoziationen statistisch nicht eindeutig nachweisbar.
Andere Medikamente zur Behandlung der bipolaren Störung, die nicht zu den Antikonvulsiva gehören, könnten offenbar ebenfalls eine Fehlbildung begünstigen. Die Studie dokumentiert eine signifikant erhöhte Rate von Vorhofseptumdefekten (OR 5,5) nach einer Exposition mit Risperidon und eine erhöhte Zahl von Klumpfüßen (OR 10,4) durch Quetiapin. Der Einsatz von Lithium war mit einem signifikant erhöhten Risiko auf eine Aortenisthmusstenose (OR 33,3) verbunden. Für Aripiprazol und Olanzapin wurden keine Assoziationen gefunden.
Valproat ist in der Vergangenheit in Frankreich häufig an Schwangere verordnet worden. Das Team um Mahmoud Zureik, dem wissenschaftlichen Direktor des ANSM, schätzt, dass seit 1967 zwischen 2.150 und 4.100 Kinder infolge einer intra-uterinen Exposition mit einer schweren Fehlbildung zur Welt kamen. Diese Zahlen beruhen zwar auf teilweise nicht überprüfbaren Annahmen, wie die Forscher schreiben, und sollten deshalb mit Vorsicht interpretiert werden. Die Zahlen wurden jedoch sofort von Medien aufgegriffen. Auch die Patientenorganisation APESAC, die den Hersteller Sanofi auf Schadenersatz verklagt hat, sieht sich in ihren Vermutungen bestätigt, dass etwa 3.800 Kinder zu Schaden gekommen sind.
Die Risikominderungsmaßnahmen der EMA sehen vor, dass Valproat grundsätzlich nicht bei Frauen im gebärfähigen Alter eingesetzt werden darf. Eine Ausnahme besteht nur, wenn Valproinsäure nach dem Versuch anderer Behandlungen die einzige wirksame Option ist. Dies sollte von einem in der Behandlung erfahrenen Arzt festgestellt worden sein. Die Ärzte müssen die Frauen auf die teratogenen Risiken und auf die Notwendigkeit einer wirksamen Empfängnisverhütung hinweisen.
Diese Vorsichtsmaßnahmen scheinen nicht immer befolgt zu werden. Eine Umfrage der britischen Epilepsy Society im April 2016 ergab, dass viele Frauen nicht ausreichend informiert waren. Eine von fünf Frauen wusste nicht, dass der Wirkstoff im Fall einer Schwangerschaft Fehlbildungen bei ihrem Kind auslösen könnte. Die britische Arzneimittelbehörde MHRA hat zuletzt Anfang April ihre Richtlinien überarbeitet.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen angeordnet, dass allen Packungen eine mit dem Symbol der „Blauen Hand“ versehene Patientenkarte zugefügt werden muss. Sie soll die Schulung der Patienten verbessern. Der Arzt muss durch Unterschrift und Praxisstempel dokumentieren, dass er die Patienten auf die Risiken hingewiesen hat.
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