Politik

Gesundheitsdaten: Kassen sollen mehr Befugnisse erhalten, Kritik aus der Ärzteschaft

  • Montag, 14. August 2023
/vladwel, stock.adobe.com
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Berlin – Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) soll breitere Befugnisse zur Verarbeitung von Versicher­tendaten erhalten. Das sieht der Referentenentwurf für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) vor. Die Standesorganisationen der Ärzteschaft kritisieren die Pläne.

Dem GDNG-Entwurf zufolge dürfen Kranken- und Pflegekassen künftig datengestützte Auswertun­gen zum individuellen Gesundheitsschutz ihrer Versicherten, zur Verbesserung der Versorgung und zur Ver­besserung der Patientensicherheit vornehmen.

Es soll sich um eine freiwillige Aufgabe handeln, in deren Rahmen die Kassen ihre Versicherten individuell ansprechen dürfen. Dabei sollen die Kassen besagte Daten auch ohne deren Einwilligung automatisiert ver­arbeiten dürfen – also beispielsweise mit Anwendungen auf Basis Künstlicher Intelligenz – wenn sie für eine Reihe vorgeschriebener Zwecke erforderlich und geeignet sind.

Dazu zählen die Früherkennung seltener Erkrankungen, die Überprüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) zur Erkennung von Gesundheitsgefahren, die risikoadaptierte Früherkennung von Krebsrisiken und die Durchführung weiterer vergleichbarer Maßnahmen zur Erkennung und Identifizierung akuter und schwerwie­gender Gesundheitsgefährdungen mit der Einschränkung „soweit dies im überwiegenden Interesse der Ver­sicherten ist“.

Kassen sollen Versicherte über Gesundheitsgefährdung informieren

Wird dabei eine konkrete Gesundheitsgefährdung erkannt, sollen die Kassen ihre Versicherten umgehend darüber informieren. „Diese Unterrichtung ist als unverbindliche Empfehlung auszugestalten, medizinische Unterstützung eines Leistungserbringers in Anspruch zu nehmen“, heißt es im Gesetzentwurf. „Die ärztliche Therapiefreiheit der Leistungserbringer wird dabei nicht berührt.“

Die ärztlichen Standesvertretungen stehen der geplanten Regelung jedoch rundweg ablehnend gegenüber. Dabei handele es sich schlicht um eine „Screeningmaßnahme mit unklarem Nutzen“, kritisiert die Kassenärzt­liche Bundesvereinigung (KBV). Vor deren Einführung in die GKV-Versorgung bräuchte es demnach eine Me­tho­denbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).

Von diesem grundsätzlichen Einwand abgesehen, stelle sich jedoch auch aus wissenschaftlicher Sicht die Frage, inwieweit auf Grundlage von Kranken- oder Pflegekassedaten überhaupt ein valides Prognosemodell mit ausreichender Sensitivität und Präzision zur sicheren Vorhersage der genannten Risiken entwickelt wer­den könne, ergänzt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi).

So würden aktuelle Studien zeigen, dass derzeitige Prognosemodelle selbst mit fortgeschrittener Methodik, langen Zeithorizonten und auf Basis umfangreicherer Daten als sie den Krankenkassen vorliegen, die Zahl von falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen noch nicht auf ein akzeptables Minimum reduzieren könnten.

Kassendaten nur bedingt brauchbar

Auch die Bundesärztekammer (BÄK) zweifelt am Nutzen dieser Vorgehensweise. Daten, die aus dem Abrech­nungskontext stammen, würden die Morbidität des Versicherten nicht derart abbilden, dass valide Aussagen zu einer Früherkennung seltener Erkrankungen, von Krebsrisiken oder die Identifizierung schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen möglich wären, wendet sie ein.

Außerdem stelle sich die Frage, warum eine Überprüfung der AMTS überhaupt in die Hände der Krankenka­ssen gegeben werden sollte. Der Gesetzentwurf begründet das damit, dass den einzelnen Leistungserbringern oft ein unvollständiges Bild vorliege und dadurch Risiken einer falschen Dosierung oder von Wechselwir­kun­gen zwischen verschiedenen Arzneimitteln bisher oft unerkannt bleiben würden.

Genau aus diesem Grund sieht der zweite Digitalgesetzentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) – das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (DigiG) – die Kopplung von Daten des elektronischen Rezeptes (E-Rezept) und elektronischer Patientenakte (ePA) vor. Verordnungs­daten sollen dabei automatisch in eine versichertenindividuelle Medikationsliste übertragen werden.

„Es liegt dann also ein vollständiger Überblick der aktuellen und zurückliegenden Medikation vor und somit eine valide Grundlage für eine Arzneimitteltherapiesicherheitsprüfung durch behandelnde Ärztinnen und Ärz­te“, schreibt die BÄK in ihrer Stellungnahme. „Eine parallele AMTS durch die Krankenkassen macht keinen Sinn.“

Gefährliche Prüfung

Die KBV geht noch weiter. Ihr zufolge könnte eine solche Parallel-AMTS nicht nur sinnlos, sondern sogar ge­fährlich sein. Denn ohne Berücksichtigung der individuellen Situation könne eine solche Prüfung auf Arznei­mittelinteraktionen zu Fehlschlüssen führen. Sie sollte deshalb der persönlichen Einschätzung und Beratung durch Vertragsärztinnen und Vertragsärzte vorbehalten bleiben.

„Insofern resultiert aus der Regelung nach Auffassung der KBV auch ein Haftungsrisiko, dem kein hinreichen­der Nutzen gegenübersteht“, heißt es in der Stellungnahme. „Zudem ist davon auszugehen, dass die unweiger­lich entstehende Verunsicherung der Patientinnen und Patienten zu einem Mehraufwand in den Praxen füh­ren wird.“

Letzteres gilt auch über die AMTS hinaus, wie der Hausärztinnen- und Hausärzteverband betont. Nicht nur reiche das vorgesehene Widerspruchsrecht angesichts der hohen Sensibilität von Gesundheitsdaten aus seiner Sicht nicht aus.

Vielmehr würden im Falle einer durch einen Algorithmus automatisiert erkannten Gesundheitsgefährdung Patientinnen und Patienten unkoordiniert und ohne weiteren Kontext durch die Kranken- und Pflegekassen in die Arztpraxen geleitet.

Zum einen dürfte es demnach zu einer unverhältnismäßig hohen Verunsicherung bei den Patienten führen, wenn sie „von ihrer Krankenkasse über eine kritische Gesundheitsgefährdung ohne nähere Beschreibung und damit ohne die Möglichkeit einer realistischen Einschätzungsmöglichkeit der Situation informiert“ werden, zum anderen würden die Arztpraxen mit unkoordinierten Patientenkontakten konfrontiert.

„Letzteres bedeutet einen hohen Arbeitsaufwand in den Praxen, Patientinnen und Patienten müssen beruhigt und behandelt werden“, schreibt der Hausärzteverband.

Alarmfunktion ohne Einordung

Von dieser Gefahr geht auch der G-BA aus. Die „bloße Bereitstellung einer ‚Alarmfunktion‘ ohne Einbettung in nutzenorientierte datengestützte Programme“, lehne er ab. Dies illustrieren insbesondere die möglichen Aus­wirkungen auf die Krebsfrüherkennung.

Würden beispielsweise einzelne Versicherte aufgrund von automatisierter Datenverarbeitung ohne ihre Ein­willigung über ein Krebsrisiko durch ihre Krankenkasse informiert, würde dies demnach ohne eine Einord­nung, beispielsweise zur Aussagekraft dieser Wahrscheinlichkeitsannahme, zu vielfach unnötiger Verunsiche­rung führen.

„Damit kann ein Rückgang bei den organisierten Früherkennungsprogrammen verbunden sein, weil Versicher­te nach entsprechender Warnung unkoordinierte Einzeluntersuchungen in Anspruch nehmen werden (soge­nanntes graues Screening)“, warnt der G-BA in seiner Stellungnahme.

Das bloße Identifizieren von Versicherten mit erhöhten Risiken – insbesondere ohne zu evaluierende Maß­nahmenkette, die sich an diese Wahrscheinlichkeitsaussage anschließt –„erscheint schädlich für einzelne Versicherte sowie auch den Nutzen der etablierten organisierten Früherkennungsprogramme“.

Kassen sehen sinnvollen Service

Anders sehen es die Krankenkassen selbst. Sie sehen die neue Regelung als sinnvoll und sachgerecht. Es han­dele sich um einen „sinnvollen Service für die Versicherten zur Vermeidung gesundheitlicher Nachteile“.

Ihre Kritik geht in eine andere Richtung: Die Befugnisse müssten noch stärker erweitert werden als geplant. Der Fokus solle nicht nur auf akute gesundheitliche Risiken gelegt werden, sondern auch auf Gefährdungen durch chronische Erkrankungen. Dabei müsse auch die Zulässigkeit der Verknüpfung der Daten der Kranken- und Pflegekassen besser klargestellt werden.

lau

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