Politik

Kontaktbeschrän­kungen nach Weihnachten, heftige Debatte um Maßnahmen

  • Mittwoch, 22. Dezember 2021
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, 2.v.l.), die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (l., SPD), der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz und Ministerpräsident von Nordrhein-WEstfalen, Hendrik Wüst (CDU, (hinten,3.v.r.), der Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt (SPD, Mitte), Generalmajor Carsten Breuer (vorne) zu Beginn der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Coronapandemie. /picture alliance, Bundesregierung, Guido Bergmann
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, 2.v.l.), die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (l., SPD), der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU, (hinten,3.v.r.), der Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt (SPD, Mitte), Generalmajor Carsten Breuer (vorne) zu Beginn der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Coronapandemie. /picture alliance, Bundesregierung, Guido Bergmann

Berlin – Um die rasante Ausbreitung der Omikron-Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 zu bremsen, ha­ben Bund und Länder umfassende Beschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens beschlossen. Sie sollen aber nach Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit dem Bund erst nach Weih­nachten gelten. Einige Bundesländer scherten aber bereit aus.

Spätestens ab 28. Dezember soll generell in Deutschland eine Obergrenze von zehn Personen für Privat­treffen gelten. Bundeskanzler Olaf Scholz verständigte sich mit den Ministerpräsidenten der Länder zu­dem auf die Schließung von Clubs und Diskotheken und leere Ränge bei Fußballspielen und anderen Großveranstaltungen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte deutlich weitreichendere Maßnahmen gefor­dert. Einen umfassenden Lockdown mit der Schließung von Restaurants und Geschäften wird es aber vorerst nicht geben.

„Corona macht keine Weihnachtspause“, sagte Scholz bei der Vorstellung der Maßnahmen. Man habe zwar die vierte Coronawelle derzeit gut im Griff. Die besonders ansteckende Omikron-Variante, die den Impf­schutz unterlaufen könne, führe aber zu einer fünften Welle, auf die man sich jetzt vorbereiten müssen. „Wir können und dürfen nicht die Augen verschließen vor dieser nächsten Welle“, sagte er.

Ziel der neuen Maßnahmen ist es, die zwischenmenschlichen Kontakte massiv zurückzufahren – vor allem mit Blick auf Silvester. „Es ist derzeit nicht mehr die Zeit für Partys und gesellige Abende in großer Runde“, sagte Scholz.

Neben den neuen Beschränkungen soll die Impfkampagne weiter vorangetrieben werden – auch wäh­rend der Weihnachtstage und zwischen den Feiertagen. Bis Ende Januar werden 30 Millionen weitere Auffrischimpfungen angestrebt. Mindestens 32,6 Prozent der Gesamtbevölkerung haben bereits eine Boosterimpfung bekommen. Mindestens 70,4 Prozent sind bisher zweifach geimpft oder haben die Einmal-Impfung von Johnson & Johnson erhalten.

Scholz strebt als „Zwischenziel“ eine Impfquote von 80 Prozent an. „Und wenn wir das erreicht haben, müssen wir das nächste Ziel in den Blick nehmen“, sagte er. Er befürwortete auch erneut eine allgemeine Impfpflicht, über die im neuen Jahr der Bundestag abstimmen soll.

Am 7. Januar soll bei einer weiteren Ministerpräsidentenkonferenz Bilanz des Beschlossenen gezogen werden. Vor der Konferenz hatte es Forderungen nach deutlich weitreichenderen Maßnahmen gegeben.

Das RKI hatte gestern Alarm geschlagen und die sofortige Schließung von Restaurants und eine Verlän­gerung der Weihnachtsferien für Schulen und Kitas gefordert. Es ging damit über die Stellungnahme des Exper­tenrats der Bundesregierung vom Sonntag hinaus, die Grundlage für die Ministerpräsidentenkonfe­renz gewesen ist. Die größten Effekte auf die Dynamik der Omikron-Welle seien „von konsequenten und flächen­de­cken­den Kontaktbeschränkungen“ und von Maßnahmen zur Infektionsvorbeugung zu erwarten, erklärte das RKI.

Bei der Bundesregierung kam das nicht gut an. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte in der Schaltkonferenz, es gebe keine wissenschaftliche Zensur, die Veröffentlichung sei aber „nicht ab­ge­stimmt“ gewesen, wie es aus Teilnehmerkreisen hieß. Das dürfe nicht passieren.

Vor Journalisten sagte der Minister heute, er stehe hinter RKI-Chef Wieler. Es sei unglücklich gewesen, dass ihn das Papier des RKI vor der gestrigen MPK nicht mehr erreicht habe. Man arbeite an der Opti­mierung der Abstimmung. Seine Arbeit werde aber die wissenschaftliche Expertise besonders berück­sichtigen. Das RKI sei dafür „ein wichtiger Baustein“.

Scholz wies in der Pres­se­konferenz darauf hin, dass das RKI mit seinem Chef Lothar Wieler im Experten­gremium der Regierung vertreten sei. Dessen Empfehlung sei einstimmig getroffen worden.

Der Expertenrat der Bundesregierung hatte am vergangenen Sonntag deutlich vager „gut geplante und gut kommunizierte Kontaktbeschränkungen“ gefordert. Nach seiner Einschätzung kann Omikron auch zweifach Geimpfte sowie Genesene leicht anstecken. „Dies kann zu einer explosionsartigen Verbreitung führen.“ Die Fachleute warnten vor einer „neuen Dimension“ der Pandemie. Kliniken stünden vor starker Überlastung. Ein Teil der Bevölkerung könnte wegen Krankheit oder Quarantäne auch als Beschäftigte ausfallen. Gefährdet sei das Funktionieren von Versorgungs- und Sicherheitssystemen.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) verteidigte die Arbeit des RKI. Man müsse nicht jeden einzelne Auffassung des RKI teilen. „Aber es ist aus meiner Sicht wichtig, dass dem RKI der Respekt entgegengebracht wird, den es verdient“, sagte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkon­fe­renz gestern.

Kritik von Baden-Württemberg und Sachsen

Die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Sachsen halten die gestern beschlossenen Maß­nah­men für unzureichend. Das machten sie in einer Protokollerklärung zum Beschluss der Konferenz deutlich. „Sie gewährleisten keine ausreichende Handlungsfähigkeit, um schnell auf eine sich zuspitzen­de Lage, wie sie der wissenschaftliche Expertenrat in seiner Stellungnahme vom 19. Dezember 2021 prog­nostiziert, reagieren zu können“, heißt es darin.

Beide Länder forderten die Bundesregierung und den Bundestag auf, schnellstmöglich die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit wieder der volle Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzgesetzes zur Verfügung stehe. Baden-Württembergs von den Grünen geführte Landesregierung nannte es zudem dringend erforderlich, kurzfristig erneut die Epidemische Lage nationaler Tragweite festzustellen. Auch das würde den Ländern mehr Handlungsspielraum geben. Auch Wüst sprach sich dafür aus. „Wann, wenn nicht jetzt“, fragte er.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) stellte sich dagegen klar hinter die Bund-Länder-Be­schlüs­se. Es gebe keinen „Weihnachts-Lockdown“, betonte er, fügte aber hinzu: „Weihnachts-Vorsicht macht sicherlich Sinn.“ Scholz appellierte an den Zusammenhalt der Bürger: „Diese Pandemie strengt uns alle an. Wir alle sind mürbe und der Pandemie müde. Das hilft aber nichts. Wir müssen abermals zu­sammenstehen und auch in vielen Fällen eben Distanz halten.“

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verteidigte die Bund-Länder-Beschlüsse zur Eindäm­mung des Coronavirus, schloss aber zugleich härtere Schritte nicht aus. Die für die Zeit nach Weihnach­ten beschlossenen Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens würden Wirkung erzielen, zeigte sich der SPD-Politiker in den ARD-„Tagesthemen“ sicher. „Aber wir schließen nichts aus. Also wenn tatsächlich die Fallzahlen sich so entwickeln würden, dass auch ein harter Lockdown diskutiert werden muss, dann gibt es da keine roten Linien.“

Debatte um richtigen Weg

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck, Mitglied des Corona-Expertenrates der Bundesregierung, hält die Beschlüsse von Bund und Ländern im Moment für ausreichend. Streeck wies im ZDF darauf hin, dass die Inzidenzen in Deutschland – anders als in anderen Ländern – zuletzt immer noch gefallen seien. Deshalb sei es auch gerechtfertigt, dass die geplanten Kontaktbeschränkungen erst nach Weihnachten greifen sollten – und nicht schon während der Feiertage.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft nannte die beschlossenen Kontaktbeschränkungen „notwendig, möglicherweise aber nicht ausreichend“. Deshalb sei es notwendig, dass die Lage weiterhin täglich be­obachtet und analysiert werde, sagte der Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Gegebenenfalls muss dann kurzfristig nachgesteuert werden.“

Der Saarbrücker Modellierer Thors­ten Lehr sagte dem Sender ntv, abhängig von den Maßnahmen könnten die Inzidenzen Anfang des Jahres um 1.000 liegen. „Da sehen wir wirklich eine relativ starke Wand auf uns zukommen.“

Die Beschlüsse kommen nach Ansicht des Frankfurter Virologen Martin Stürmer zu spät. „Bei der Ver­dopplungsrate, die Omikron an den Tag legt, ist jeder Tag wichtig“, sagte Stürmer im Deutschlandfunk. Omikron sei nicht erst seit gestern eine Bedrohung. Man könne der Politik durchaus den Vorwurf machen, mit dem verspäteten Treffen „schon wieder etwas verschlafen“ zu haben.

„Natürlich wollen wir alle wieder zur Normalität zurück. Wir wollen diese Feiertage genießen und mal zur Ruhe kommen. Aber ich glaube nicht, dass wir das Signal der Entspannung aussenden können“, sagte Stürmer. Er habe das Gefühl, es werde das Signal vermittelt „über Weihnachten können wir uns noch ent­spannen, danach ziehen wir die Bremse wieder an“. Es seien Beschlüsse, die wieder nicht vor die Welle kommen, sondern nach der Welle entsprechend reagieren werden. „Da hätte ich mir mehr gewünscht“, sagte Stürmer.

Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO), Thomas Mertens, hat sich mit Blick auf Omikron für umfassendere Kontaktbeschränkungen ausgesprochen. Es müssten angesichts der leichten Übertrag­barkeit auf jeden Fall viel, viel mehr Kontaktbeschränkungen erfolgen als derzeit üblich – und zwar „sehr schnell“, sagte Mertens der Schwäbische Zeitung. Ob es ein vollständiger Lockdown sein müsse, sei jetzt schwer zu sagen, erklärte der Stiko-Chef.

Vertreter der Opposition im Bundestag haben die Beschlüsse kritisiert. Die AfD warf der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten der Länder vor, die Bürger mit willkürlichen und widersprüchlichen Schrit­ten in Panik zu versetzen. „Ob diese Maßnahmen verhältnismäßig, tauglich und sinnvoll sind, steht wie­der nicht zur Debatte“, erklärten die Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla.

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, warf Bund und Ländern vor, das Ver­trau­en der Bevölkerung massiv zu beschädigen. So sei es irritierend, dass die Coronamaßnahmen erst ab dem 28. Dezember und nicht schon vor Weihnachten verschärft würden, sagte er dem Redaktionsnetz­werk Deutschland (RND). Er wolle es ironisch sagen: „Bis vor kurzem war mir nicht bekannt, dass das Virus unsere Weihnachtsfeiertage verinnerlicht hat.“ Zudem sei der Appel an dreifach Geimpfte, sich weiter testen zu lassen, ein „Zurück auf Null“.

Dazu komme das kommunikative Desaster, dass das Robert-Koch-Institut öffentlich auf sofortige und maximale Kontaktbeschränkungen und somit auf viel schärfere Maßnahmen gedrängt habe, als die Bundesregierung es dann mit den Ländern beschlossen habe. „Das alles ist der Bevölkerung nicht zu erklären und schwächt das Vertrauen in die Corona-Politik weiter“, sagte Bartsch.

„Wir bräuchten jetzt einen scharfen Lockdown vom 27. Dezember bis zum Neujahrstag, ähnlich wie in den Niederlanden“, sagte der CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger Augsburger Allgemeinen. „Das ist alles nicht genug, schon im vergangenen Winter haben die geringen Kontaktbeschränkungen nicht ausgereicht, um die damalige Coronawelle zu brechen.“

Wie schon fast üblich scherten trotz der Bund-Lände-Runde einige Länder aus. Hamburg hatte bereits gestern vor der Runde strengere Maßnahmen vor Weihnachten angekündigt. Und auch Mecklenburg-Vorpommern zieht die Omikron-Notbremse schon an Heiligabend an.

Das Land verbietet private Zusammenkünfte von mehr als zehn Geimpften. Ungeimpfte dürfen sich mit höchstens zwei weiteren Personen treffen. Kinder bis 14 Jahre sollen ausgenommen sein. Mecklenburg-Vorpommern tue dies, weil immer noch viele Menschen im Land nicht geimpft seien, das Infektions­geschehen hoch und die Krankenhäuser stark belastet seien. „Wir machen uns ernste, große Sorgen“, sagte Schwesig. „Die Lage wird sich drastisch verschärfen, das sagen uns die Wissenschaftler.“

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat Unverständnis dafür geäußert, dass sich mehrere Bun­desländer von den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz zur Coronapolitik distanziert haben. „Ich halte wenig davon, dass man in einer Konferenz etwas vereinbart und hinterher erklärt, dass man damit unzufrieden ist“, sagte der FDP-Politiker im „Morgenmagazin“ der ARD. Er könne darüber „nur den Kopf schütteln“.

dpa/afp/kna/may

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