EU-Pharmapaket: Widerstand gegen Antibiotika-Voucher und schärfere Verschreibungspflichten

Berlin – Die Bundesregierung hat sich mit einer Verbändeanhörung im Bundesgesundheitsministerium (BMG) für die Verhandlungen zur Revision des EU-Arzneimittelrechts gewappnet. Insbesondere die Pläne der EU-Kommission für übertragbare Gutscheine zur Entwicklung neuartiger Antibiotika und der Verschärfung der Verschreibungspflicht erhalten dabei viel Widerspruch, aber auch vereinzelte Zustimmung.
Dem Vernehmen nach ist der Druck in Brüssel gerade hoch. Es handelt sich um die größte Reform des EU-Arzneimittelrechts seit fast 20 Jahren und der politische Wille ist groß, das zweiteilige Paket – ein Entwurf zur Revision der Richtlinie für Humanarzneimittel sowie ein Verordnungsentwurf – noch vor den Europawahlen im Juni kommenden Jahres zu verabschieden.
Denn nicht nur befürchten viele EU-Parlamentarier neben dem Verlust thematisch eingearbeiteter Abgeordneter einen weiteren Rechtsruck mit noch nicht absehbaren Konsequenzen für konkrete Gesetzesvorhaben.
Auch wird zentrales Personal des Verfahrens fehlen: Die Berichterstatterin für den Richtlinienteil der Reform, Pernille Weiss, wird nach einem Mobbingskandal von der dänischen Konservativen Volkspartei nicht noch einmal für die Wahl aufgestellt. Berichterstatter für den Verordnungsteil ist der deutsche SPD-Politiker Tiemo Wölken.
Beteiligte zweifeln allerdings zunehmend an, dass eine zeitnahe Verabschiedung noch zu schaffen ist – nicht nur aufgrund der hohen Komplexität des Gesetzes, sondern auch weil es fachlich und damit auch personell große Überschneidungen mit dem mindestens genauso komplexen Gesetzesvorhaben zum Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) gibt, das ebenfalls sehr viele Ressourcen bindet.
Doch das dürfte äußerst schwierig werden. Die letzte Möglichkeit zur Abstimmung im EU-Parlament wäre voraussichtlich Anfang April 2024. Allein die Stellungnahmefrist des EU-Parlaments ist jedoch bereits von Juni bis Anfang September dieses Jahres nach hinten gerutscht, da die offiziellen Übersetzungen noch nicht vorliegen.
Die Bundesregierung will sich bereits frühzeitig für die Verhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Ministerrat wappnen und hat dazu gestern in Berlin eine erste Verbändeanhörung durchgeführt, an der Vertreterinnen und Vertreter aus Ärzte- und Apothekerschaft, Pharmaindustrie, gesetzlicher Krankenversicherung sowie von Fach- und Forschungsgesellschaften teilnahmen.
Darunter befanden sich neben der Bundesärztekammer (BÄK), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dem Bundesverband der Apothekerverbände (ABDA) auch die großen Pharmaverbände, der GKV-Spitzenverband oder aber das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Uneinigkeit gab es dabei dem Vernehmen nach bei einem zentralen Vorhaben der EU-Kommission, den Vouchern. Diese Gutscheine, sogenannte Transferable Exclusivity Voucher (TEV), sollen Anreize zur Entwicklung und Herstellung neuartiger, resistenzbrechender Antiinfektiva schaffen, die den Unterlagenschutz um ein Jahr verlängern.
Mit einem solchen Voucher soll ein Unternehmen – unter bestimmten Bedingungen – die Marktexklusivität eines anderen eigenen Arzneimittels verlängern oder ihn einem anderen Unternehmen verkaufen können, das ihn dann für ein eigenes Medikament nutzt. Ihre Zahl soll auf zehn Stück innerhalb von 15 Jahren begrenzt werden.
Die KBV hält diese Maßnahme zwar für grundlegend sinnvoll, kritisiert aber die Übertragbarkeit des Gutscheins als zu weitgehend. „Es sollten andere Anreize geschaffen werden, wie sie beispielsweise in Deutschland im Rahmen der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V für sogenannte Reserveantibiotika bereits gefunden wurden“, schreibt sie in ihrer Stellungnahme, die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.
Die BÄK und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) positionieren sich deutlicher gegen die Pläne: Übertragbare Voucher seien nicht wirksam und würden das Risiko einer Überkompensation aufweisen und könnten einen Bereich der Gesundheitsversorgung auf Kosten eines anderen unverhältnismäßig subventionieren, schreiben sie in ihrer gemeinsamen Stellungnahme.
Stattdessen gebe es bereits weitere Anreizmodelle, „die ebenfalls von der verkauften Menge der Antibiotika entkoppelt sind, deren Kosten jedoch für die Sozialversicherungssysteme kalkulierbar sind und zu denen in verschiedenen Staaten bereits Erfahrungen bestehen“, heißt es weiter. Der GKV-Spitzenverband positioniert sich mit Blick auf mögliche Zusatzkosten durch die Voucher ähnlich.
Dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) wiederum gehen die Pläne nicht weit genug. Er hält entgegen, dass die Voucher zwar Mehrausgaben bei den Krankenversicherungssystemen verursachen könnten. „Doch ersparen sie den Krankenversicherungen durch die mit ihrer Hilfe entwickelten Reserveantibiotika die weit höheren Kosten, die mit unbehandelbaren resistenten Keimen verbunden wären“, heißt es in der vfa-Stellungnahme. Die Vorteile würden die assoziierten Kosten also bei weitem übersteigen.
Die beiden anderen großen Pharmaverbände Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) und Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), die noch in diesem Jahr fusionieren wollen, haben sich nach Angaben verschiedener Teilnehmer der Anhörung bei dem Thema eher zurückgehalten – tendieren aber eher zu einer ablehnenden Haltung.
Sie repräsentieren sowohl Hersteller innovativer Arzneimittel, die sich wie der vfa für die Voucher aussprechen, als auch Generikahersteller, für die sie wiederum eine Einschränkung ihrer Planungssicherheit bedeuten würden.
Aus Teilnehmerkreisen heißt es, das BMG blicke ebenfalls verhalten auf das Modell. Das Thema werde auch innerhalb der EU kontrovers diskutiert und nur eine Minderheit der Mitgliedstaaten favorisiere die Voucher. Allerdings herrsche Handlungsdruck und bei Ablehnung der Idee müsse man zumindest eine Alternative vorschlagen – die dem BMG wohl fehlt. Das Ministerium sei deshalb dankbar für jeden Vorschlag. Das BMG hat eine Anfrage dazu nicht beantwortet.
Uneinigkeit herrscht auch bei einem anderen, bisher eher wenig beachteten Vorhaben der EU-Kommission, das potenziell große Veränderungen im Versorgungsalltag mit sich bringen könnte. Der Richtlinienentwurf sieht nämlich in seiner jetzigen Formulierungsweise eine massive Ausweitung der Verschreibungspflicht für sämtliche antimikriobiellen Wirkstoffe vor, explizit aller Antibiotika, Virostatika und Antimykotika.
Das würde auch allerlei en masse genutzte Präparate gegen Erkrankungen wie Lippenherpes oder Fußpilz betreffen. Insbesondere der BAH kritisiert das Vorhaben und brachte es auch bei der Anhörung zur Sprache. Der Verband geht nach eigenen Berechnungen davon aus, dass die Maßnahme Patienten in einer Größenordnung von bis zu 150 Millionen Fällen pro Jahr zu zusätzlichen Arztbesuchen zwingen und die Krankenkassen Milliarden kosten könnte.
Aus ärztlicher Sicht ebenfalls bedeutend könnten weitere Kommissionspläne gegen Antibiotikaresistenzen werden: Die Mitgliedsstaaten sollen demnach spezielle Voraussetzungen für die Verschreibung von antimikrobiellen Arzneimitteln festlegen können, die Gültigkeit entsprechender Verordnungen befristen oder die insgesamt zu verordnende Menge beschränken können. So solle unter anderem eine verpflichtende Anwendung diagnostischer Tests vor der Verschreibung möglich werden.
Gegen diesen Punkt stellte sich die KBV in der Anhörung. Verpflichtende diagnostische Tests vor Antibiotikaverordnungen seien höchstens in Einzelfällen sinnvoll. Die Entscheidung über eine geeignete Therapie mit antimikrobiellen Arzneimitteln sei in der Regel bereits aufgrund der epidemiologischen Lage und der klinischen Symptomatik empirisch möglich. „Nur wenn eine gezielte Antibiotikatherapie erforderlich ist, sind eine bakteriologische Untersuchung und eine Resistenztestung notwendig“, schreibt die KBV in ihrer Stellungnahme.
Großen Raum nimmt im Richtlinienentwurf auch die Umweltverträglichkeit ein. So soll eine Zulassung verweigert oder widerrufen werden können, wenn die Bewertung von möglichen Risiken für die Umwelt oder die öffentliche Gesundheit – einschließlich Antibiotikaresistenzen – unvollständig ist, unzureichend begründet wurde oder festgestellt, aber vom Antragsteller nicht ausreichend berücksichtigt wurde.
Die Pharmaverbände wendeten dagegen ein, dass eine solche langfristige Abschätzung des Umweltrisikos bei der Beantragung der Zulassung meist gar nicht möglich sei. Dadurch würde fehlende Planungs- und Rechtssicherheit geschaffen.
Der GKV-Spitzenverband hingegen begrüßt die Regelung und hat nach Teilnehmerangaben gefordert, Umweltaspekte auch in vergaberechtliche Regelungen aufzunehmen. Das BMG wies das zurück, weil es nicht im Fokus des EU-Pharmapakets stehe, erklärte aber, dass das Thema intern bereits angestoßen werde.
Relativ große Einmütigkeit herrschte hingegen bei der Einschätzung, dass das Pharmapaket in wichtigen Punkten noch zu sehr im Vagen bleibe. So spielt darin der Begriff „Unmet Medical Need“ (UMN) – also unerfüllter medizinischer Bedarf – eine zentrale Rolle, beispielsweise bei der Festlegung der Marktexklusivität neuer Arzneimittel. Generell will die EU-Kommission, dass die Arzneimittelentwicklung in der EU zukünftig stärker als bisher am UMN ausgerichtet werden soll.
Allerdings, so kritisiert das IQWiG in seiner Stellungnahme, sind zentrale Punkte der Begriffsdefinition in den Entwürfen nicht eindeutig konkretisiert. Die EU-Kommission will sich vorbehalten, das in späteren Rechtsakten selbst zu tun. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem Begriff ergeben, sei es aber unabdingbar, ihn von Beginn an eindeutig zu definieren.
Ob sowie gegebenenfalls wann und wie solche neuen Regeln kommen, ist jedoch offen. Das BMG erklärte nach Angaben von Teilnehmern, dass es mit Blick auf die Komplexität des Gesetzesvorhabens mit mehrjährigen Verhandlungen rechne.
Zwar unterstütze das Ministerium die Grundgedanken des Pakets, etwaige Neuregelungen dürften jedoch nicht zulasten der hiesigen Versorgungsqualität gehen. Auch das BMG vermute nach eigener Aussage, dass das Parlament es nicht mehr schaffen werde, vor den Europawahlen über das Paket abzustimmen.
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