Kosten und Nutzen von Arzneimitteln klaffen immer weiter auseinander

Berlin – Die Kosten für Arzneimittel steigen schneller als der Nutzen, den sie real in der Versorgung bringen. Zu diesem Ergebnis kommt das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) in seinem heute veröffentlichten Arzneimittel-Kompass 2022.
Die stetige Zunahme der Arzneimittelkosten an den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beklagen die Krankenkassen seit Jahren. Die AOK hat nun Daten vorgelegt, die zeigen sollen, dass dem keine entsprechenden Verbesserungen in der Versorgung gegenüberstehen.
„Es wird immer mehr Geld für eine immer geringere Versorgungsreichweite ausgegeben“, sagte der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. Der Arzneimittel-Kompass zeige, dass neue Arzneimittel nicht per se innovativ seien.
27,5 Milliarden Euro habe die GKV im vergangenen Jahr allein für patentgeschützte Arzneimittel ausgegeben. Das entspricht 52,5 Prozent der Gesamtarzneimittelausgaben von 50,2 Milliarden Euro – während patentierte Medikamente gemessen an verordneten Tagesdosen lediglich 6,5 Prozent der Versorgung abdeckten.
Das Umsatzwachstum sei trotz der jüngst reformierten Maßnahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) ungebrochen. Arzneimittel würden seit rund zehn Jahren immer mehr kosten, aber gleichzeitig immer weniger zur Versorgung beitragen. „Dieser Trend wird sich unserer Einschätzung nach in den nächsten Jahren fortsetzen“, erklärte Schröder bei der Vorstellung der Zahlen.
14,4 Prozent habe die Umsatzsteigerung bei Patentarzneimitteln im vergangenen Jahr betragen, daneben fielen aber noch zwei weitere Marktsegmente durch besonderes Wachstum auf: Orphan Drugs gegen seltene Erkrankungen mit 24,7 Prozent und biologische Arzneimittel mit zwölf Prozent.
Speziell vor dem Hintergrund der Kostensteigerungen bei patentierten Medikamenten begrüßt die AOK deshalb die mit dem gerade verabschiedeten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) beschlossenen Reformen – und kritisiert gleichzeitig, dass sie nicht weit genug reichen würden.
Denn künftig gilt der verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel bereits nach sieben statt bisher zwölf Monaten nach Markteintritt. Das sei nicht nur überfällig gewesen, sondern reiche auch nicht aus, erklärte Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK-Bundesverband: „Hersteller können immer noch sechs Monate lang hohe Gewinne für die von ihnen festgesetzten Preise einfahren, unabhängig davon, ob das neue Arzneimittel einen Mehrwert für die Versorgung bringt oder nicht.“
Dabei sei auch zu befürchten, dass die Hersteller die Preissenkungen, die ab dem zweiten Halbjahr zu erwarten sind, entsprechend zuvor einpreisen und dann mit noch höheren Wunschpreisen als bisher in den Markt eintreten. „Der verhandelte Erstattungsbetrag muss rückwirkend zum Markteintritt gelten“, forderte Richard deshalb. „Für einen angemessenen Preis von Beginn an sollte ein Interimspreis als vorläufiger Abrechnungsbetrag für jedes neue Arzneimittel festgelegt werden.“
Die Pharmaindustrie wies das umgehend zurück. „Die Vorschläge des AOK-Bundesverbandes würden massive zusätzliche Belastungen mit sich bringen, welche schädlich für die Arzneimittelversorgung und den Standort Deutschland wären“, erwiderte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), Hubertus Cranz.
Vielmehr sei es so, dass die anteiligen Ausgaben für Arzneimittel seit über zehn Jahren konstant seien und bei unter 17 Prozent der GKV-Gesamtausgaben lägen. „Zusätzliche Einschnitte im Bereich Arzneimittel sind nicht zu rechtfertigen.“
Ganz andere Reaktionen sind hingegen aus den Regierungsfraktionen zu vernehmen. „Der Arzneimittel-Kompass 2022 zeigt erneut sehr deutlich auf, dass wir auch bei den Arzneimitteln einen stärkeren Fokus auf die Wirkstoffe brauchen, die tatsächlich das Leben von Patientinnen und Patienten verbessern und echte Innovationen sind“, erklärte Paula Piechotta, Berichterstatterin für Arzneimittel der grünen Bundestagsfraktion.
Zwar müsse es für diese Arzneimittel angemessene Preise geben, die den hohen Forschungsaufwand widerspiegeln. „Wir können es uns aber nicht leisten, auch jene Wirkstoffe mit sehr hohen Preisen zu vergüten, die keinen relevanten Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten haben“, betonte Piechotta.
Dem Arzneimittelkompass zufolge gibt es da nämlich erhebliche Defizite: Demnach habe sich bei 61,5 Prozent der Patientengruppen im AMNOG-Bewertungsverfahren kein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie gezeigt.
Noch nicht einmal bei 40 Prozent der untersuchten Gruppen könne auch eine Verbesserung der Behandlungsqualität erwartet werden. Allein in den vergangenen zehn Jahren habe die GKV 16,6 Milliarden Euro für Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen ausgegeben – 3,8 Milliarden Euro allein im vergangenen Jahr.
Noch größer ist die Diskrepanz von Kosten und Nutzen in der breiten Arzneimittelversorgung naturgemäß bei den Orphan Drugs: So würden immerhin 13 Prozent aller Ausgaben auf gegen seltene Erkrankungen entfallen, während ihr Verordnungsanteil nach Tagesdosen gerade einmal 0,07 Prozent beträgt.
Eine tägliche Behandlung mit einem solchen Arzneimittel kostet also durchschnittlich 213,53 Euro, die mit einem Nicht-Orphan-Arzneimittel hingegen nur 0,94 Cent. Dem stehe jedoch keine bessere Wirkung gegenüber.
Bei mehr als zwei Dritteln der Patientengruppen, die diese Medikamente verordnet bekommen hätten, sei bisher kein oder nur ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen festzustellen. „Deshalb ist die Zeit reif, die Ausnahmeregelungen für Orphan Drugs endlich abzuschaffen und die Versorgungsqualität damit zu verbessern“, forderte Richard.
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