Notfallreform: Zentrale Steuerung bei Notfallversorgung benötigt

Berlin – Die Notfallversorgung sollte dringend reformiert werden. Insbesondere müssten Strukturen bundeseinheitlicher gestaltet werden und der Bund sollte deshalb stärker in die Steuerung eingreifen. Das betonten Experten heute bei einer Rettungsdienstkonferenz der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Insbesondere standardisierte, strukturierte und zentrale Leitstellen würden in dieser Hinsicht künftig benötigt.
Seit vielen Jahren gebe es eine Überforderung im Notfallsystem, betonte die stellvertretende Faktionsvorsitzende der Grünen, Maria Klein-Schmeink. In der Coronapandemie habe diese Überlastung weiter zugenommen.
Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag und Notfallmediziner, Janosch Dahmen, betonte, es sei wichtig zu analysieren, wo die Probleme der Rettungsdienste liegen. Sein Ziel sei es, Lösungen zu suchen und diese in eine bessere Gesetzgebung zu gießen.
Wichtig sei zu klären, was der Bund bezüglich des Rettungsdienstes entsprechend ändern könne, um für eine bessere Versorgung in den Ländern und Kommunen zu sorgen. Die geplante Reform der Notfallversorgung dürfe die Rettungsdienste nicht außer Acht lassen, betonte er.
Aufgrund der hohen Belastung der Notfallversorgung braucht es adäquate Lösungen für die Sicherstellung der Patientenversorgung, forderte Thomas Krafft von der Fakultät für Health, Medicine and Life Sciences an der Universität Maastricht. Krafft ist Mitautor einer aktuellen Studie zur Notfallversorgung in Deutschland, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben worden ist.
Unübersichtliche Strukturen
Oftmals werde ausgeklammert, dass diese Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern auch international zu beobachten sei, so Krafft. Andere Länder, etwa Österreich oder auch England führten allerdings zielorientierter Lösungen herbei, um der Belastung der Notfallversorgung entgegenzutreten.
Krafft kritisierte insbesondere die „völlig zersplitterte Zuständigkeit durch föderale Strukturen“ in der Notfallversorgung. Für Patientinnen und Patienten seien diese unübersichtlich. In den 16 Bundesländern gebe es rund 300 verschiedene Träger, mehr als 230 Leitstellen und mehr als 100 ärztliche Leiter der Rettungsdienste.
Zudem bemängelte er, dass die Bundesländer bei der Lösung der Probleme vor allem eigene Ansätze entwickelten und kaum zusammenarbeiten würden. „Wir haben erhebliche Defizite im Bereich der Steuerung und der Zusammenarbeit. Die resultieren daraus, dass wir keine einheitlichen Vorgehensweisen haben.“
Auch wenn es bereits gute Modellprojekte gebe, existiere derzeit kein einheitliches Register, in dem entsprechende Ergebnisse zusammengeführt werden, kritisierte Krafft. Es brauche aber eine zentrale Datenbank, mithilfe dessen die Bundesländer voneinander lernen könnten.
Darüber hinaus werde in der Notfallversorgung ein bundesweit einheitliches Zielbild benötigt. Hier könne der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bezüglich Qualitätskriterien und evidenzbasierter Medizin entsprechende Vorgaben machen und mit dafür sorgen, dass es zu einer stärkeren Vereinheitlichung der Bundesländer kommt, schlug Krafft vor.
Vorbild Österreich
Krafft nannte Österreich als gutes Beispiel, wie die Notfallversorgung reformiert werden könnte. Dort gibt es ein standardisiertes und strukturiertes Notrufabfragesystem. Dieses System wurde zunächst in St. Pölten als Modellprojekt eingesetzt, sei sehr überzeugend gewesen und habe sich auf Bundesebene durchgesetzt, so Krafft. Der Bund hatte die Bundesländer in Österreich angewiesen, das System umzusetzen und deshalb werde dort bundeseinheitlich verfahren.
Christof Chwojka, ehemaliger Geschäftsführer Notruf Niederösterreich, verwies auf das Kernelement der Neuaufstellung in Österreich: Aus 84 Leitstellen wurde eine gemacht. Eine Cloud-basierte Plattform bietet nun die Möglichkeit, an vier über Österreich verteilten Standorten oder sogar aus dem Home-Office zu arbeiten.
Gestützt wird die Leitstellenarbeit von einer Ersteinschätzungssoftware sowie den Möglichkeiten der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) – letzteres bis hin zur Nachverfolgung der Einhaltung der abgegebenen Empfehlung für etwa einen zeitnahen Praxisbesuch.
Ziel der Notrufumstrukturierung in Österreich sei eine Ausrichtung am „Kundenservice“ – die Patientinnen und Patienten sollen mit einer Beratung nicht behördlichen Charakters, Telemedizin und passenden Kontaktoptionen zum „best point of service“ gelotst werden.
Wolle man in Deutschland die Notfallversorgung wirklich umfassend optimieren, so Chwojka, dürften Aspekte wie Datenschutz oder Widerstände aus dem, auch in Österreich föderalen System, dabei keine Ausrede sein.
Informationskampagnen nützen kaum
Forschungsergebnisse würden zudem zeigen, dass die Halbwertszeit von Aufklärungs- und Informationskampagnen zum richtigen Gebrauch von Notrufnummern weniger als ein halbes Jahr beträgt, sagte Krafft. Wenn sich jemand subjektiv in einer Notsituation befindet, dann werde nicht mehr unbedingt sachgerecht gehandelt. Er halte deshalb nicht viel von weiteren Informationskampagnen, um die Notrufnummer 112 und die Bereitschaftsnummer 116117 bekannter zu machen.
„Wir brauchen eine integrierte Leistelle, die als Ansprechpartner dient, filtert und eine eigene Lösung für Hilfesuchende findet, auch wenn es nur eine Beratung ist“, fordert er. Diese Leitstelle als „Single Point of Contact“ solle als zentrale Anlaufstelle dienen und die Aufgaben der 112 und 116117 technisch und fachlich eng verknüpfen.
Entsprechende gemeinsame Leitstellen werden auch von der Regierungskommission Krankenhaus empfohlen. Dieser Ansatz soll im Zuge der geplanten Krankenhausreform auch mit einer Reformierung der Notfallstrukturen etabliert werden.
Mehr Transparenz und Einhaltung von Qualitätskriterien
Eine zentrale Leitstelle sollte zudem mit einer bundesweit einheitlichen standardisierten und strukturierten Notrufabfrage verknüpft sein. Außerdem brauche es mehr Transparenz bezüglich der geleisteten Hilfe und der Versorgung, das mit einem routinemäßigen Qualitätsmanagement einhergehen sollte. „Die Transparenz endet beim Anrufvorgang. Wir wissen nicht was danach passiert“, monierte Krafft.
Langfristig brauche es auch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, forderte Krafft. Beispielsweise habe der Einsatz von KI in Kopenhagen gezeigt, dass die Interventionszeiten hätten deutlich verkürzt werden können. Der KI-Einsatz setze aber voraus, dass Leitstellen standardisierten und strukturierten Prozessen strikt folgten und es klare Qualitätssicherungsmaßnahmen gebe, so Krafft.
Mit dem Wissen, dass durch KI-Unterstützung Zeiten verkürzt und damit Leben gerettet werden könnten, sei es ethisch problematisch, die entsprechenden Voraussetzungen nicht zügig auf den Weg zu bringen, mahnte Krafft. Darüber hinaus bräuchte es auch bundesweit einheitliche telenotärztliche Systeme.
Über die Möglichkeiten des Bundes, den Rettungsdienst stärker zu steuern und bundeseinheitlicher zu gestalten, gab Ulrich Wenner, Vorsitzender am Bundessozialgericht a.D. Auskunft.
Demnach habe der Bund keine volle Kompetenz über die rechtliche Ausgestaltung des Rettungsdienstes. Allerdings könne er in engen Grenzen und ergänzend über die Bundeszuständigkeit der Sozialversicherung, die im Grundgesetz in Artikel 74 Absatz 1 Nummer 12 festgehalten ist, entsprechend mehr agieren.
Über diesen Paragrafen verfügt der Bund bereits heute schon über die komplette Sozialversicherungsgesetzgebung und darunter unter anderem die Vergütung der Ärztinnen und Ärzte sowie Regelungen im Arzneimittelbereich, erläuterte Wenner.
Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrats möglich
Um einen Bund-Länder-Konflikt an dieser Stelle zu vermeiden, sollte der Bund bei einem Rettungsdienstgesetz allerdings keine Kompetenzvorschriften für Länder vorgeben und sie nicht verpflichten, etwas zu bezahlen. Wenn dies beachtet werde, benötige das Gesetz keine Zustimmung des Bundesrats, so Wenner.
Andreas Pitz, Professor für Medizin- und Sozialrecht an der Hochschule Mannheim betonte zudem, dass bei der Diskussion die Schutzpflichten des Staates gegenüber den Bürgern stärker im Vordergrund stehen müssten.
Der Bund könne die Ansprüche der Versicherten konkret beschreiben, die im Bereich der Notfallversorgung bestehen. Dazu zählen unter anderem Leistungen des Notfallmanagements, die notfallmedizinische Versorgung sowie der Notfalltransport in eine geeignete Einrichtung.
Aus der Sicht von Pitz widerspricht der rechtlich geltende Vorrang des Landesrechts bei der Vergütung der Fahrtkosten in der Notfallversorgung den Grundprinzipien des Sozialgesetzbuches V. Denn die Krankenkassen müssten Stand heute auch unwirtschaftliche oder qualitativ mangelhafte Leistungen vergüten. Der Bund könnte Pitz zufolge das Leistungsrecht und damit die Vergütung von Leistungen von der Erfüllung von Qualitätsparametern abhängig machen.
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