Ärzteschaft

Zu wenige freie Intensivbetten für kritisch kranke Kinder

  • Donnerstag, 1. Dezember 2022
/visivasnc, stock.adobe.com
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Hamburg – Aktuell steht in Deutschland weniger als ein Bett pro Intensivstation für kritisch kranke Kinder zur Verfügung, dies zeigt eine heute vorgelegte Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Hinzu kommt, dass nur 60 Prozent der verfügbaren Betten betreibbar sind. Dem liegt vor allem der Mangel an qualifizierten Pflegekräften zugrunde. Daher sind Maßnahmen, um das pflegerische, aber auch das ärztliche Personal auf den Intensivstationen zu halten, dringend erforderlich.

Die DIVI hatte in ihrer Ad-hoc-Umfrage 130 Kliniken mit Kinderintensivstationen angeschrieben und von 110 Antworten bekommen, berichtete der DIVI-Generalsekretär Florian Hoffmann im Rahmen einer Pressekonferenz. Insgesamt gebe es in diesen Klinken 607 Betten unter optimalen Bedingungen. Aber nur 367 wären betreibbar, so der Oberarzt der Kinderintensivmedizin am Dr. von Haunersches Kinderspital, Uniklinikum München, weiter. Somit seien 40 Prozent der Betten gesperrt, weil vor allem Pflegekräfte fehlten.

In ganz Deutschland hätten an dem Tag der Umfrage 83 freie Betten zur Verfügung gestanden, fuhr Hoffmann fort. Das seien 0,75 freie Betten pro teilnehmender Klinik. Zudem musste jede zweite Klinik in den vergangenen 24 Stunden wenigstens ein Kind ablehnen, für dessen Aufnahme eine andere Klinik angefragt hatte.

„Die Daten sind über jedes Jahr schlechter geworden“, sagte Hoffmann. Er zeigte anhand der Belegung der fünf Kinderintensivstationen in München, dass die Situation sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert und der Mangel an Versorgungskapazitäten zugenommen habe. „Das ist kein momentanes Problem, das ist ein Problem, das sich in den letzten Jahren verstärkt hat.“

Pflegekräftemangel als Ursache

Laut Sebastian Brenner, DIVI-Kongresspräsident 2022 und Leiter der Kinderintensivmedizin am Universitätsklinikum Dresden, gehöre zur aktuellen Notlage ein kritischer Pflegemangel, „der zu einer dramatischen Reduktion der betreibbaren Betten führt.“ Hinzu komme, dass sowohl Pflegekräfte als auch ärztliches Personal am Belastungslimit arbeite. Die kritisch kranken Kinder würden versorgt, ohne dass weitere Ressourcen etwa für einen Notfall vorhanden wären.

Dabei steige das Patientenaufkommen aber an, weil zum Beispiel immer mehr chronisch kranke Kinder auf den Intensivstationen betreut würden. „Dadurch kommt es zu diesen kritischen Versorgungsengpässen.“

Jeden Morgen stünden seine Kolleginnen und Kollegen und er vor der Frage, ob sie ein lebensbedrohlich erkranktes Kind auf ihre Intensivstation aufnehmen können, berichtete Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Die betroffenen Kinder seien auf eine Versorgung in einem solchen Zentrum, das etwa Organersatzverfahren anbiete, angewiesen, so der Oberarzt aus Hannover. „Diese Versorgung können wir nicht mehr gewährleisten.“

RSV-Infektionen verstärken angespannte Situation

Diese angespannte Situation würde aktuell durch die aktuelle Infektionswelle mit dem respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) getriggert, berichtete Sasse. Das überfordere die Kliniken weiter. So fänden Beatmungen auf Normalstationen statt, was eigentlich auf Intensivstationen geschehen müsste. „Die Situation ist so prekär, dass man wirklich sagen muss: Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können.“

„Die Not auf den Kinderintensivstationen ist signifikant vorhanden,“ bestätigte auch die Intensivpflegekraft Julia Daub vom Universitätsklinikum Tübingen. Die Betreuung von hochkomplexen Patienten sei Alltag auf den Intensivstationen. Gemeinsam mit dem Personalmangel führe dies zu einer enormen Belastung beziehungsweise ständigen Überforderung der Mitarbeitenden. „Wir arbeiten nicht nur am Limit, sondern wir arbeiten über unser Limit hinaus.“

Mögliche Maßnahmen für die Lösung dieser schwierigen Situation, stellte Karin Becke, Chefärztin der Anästhesie an der Cnopfsche Kinderklinik in Nürnberg vor. Sie sollten nicht nur akut, sondern auch mittel- und langfristig wirken. Ziel sei es, „wieder viele motivierte und fröhliche Menschen in den Beruf zu bringen und dort zu halten.“

Um die Mitarbeitenden binden zu können, bräuchte es laut Becke moderne Arbeitsmodelle und eine verlässliche Dienstplanung. Die Möglichkeit, zumindest ältere Kinder auf Erwachsenenstationen unterzubringen, sei aufgrund des dortigen Personalmangels auch nicht mehr gegeben. Viele Operationen etwa bei Tumorerkrankungen, aber auch kleineren HNO-Eingriffen müssten daher abgesagt werden. Das seien katastrophale Folgen.

Kapazitäten herunterfahren

Eine Schlüssellösung für die Lösung der Probleme, hatte auch Becke nicht. Doch müssten die Kapazitäten heruntergefahren werden. Mehr leisten als möglich, gehe kurzfristig, aber nicht auf Dauer. Das heiße, Betten schließen, entscheiden und priorisieren, was jetzt wirklich wichtig ist. Auch wenn es schwerfällt, müssten geplante Eingriffe abgesagt werden. „Wir brauchen diesen Puffer für die Notfallpatienten.“

Zudem schlug Becke vor, die Dienstpläne flexibler zu gestalten. Über das Jahr verteilt, sei die Auslastung durchaus unterschiedlich - mit einer hohen Auslastung im Winter und einer geringeren im Sommer. So sollten im Winter mehr Mitarbeitende zur Verfügung stehen.

Um die stationäre Versorgung entlasten zu können, biete es sich an, mehr Kinder tagesstationär zu behandeln, sagte die Kinderanästhesistin, etwa bei bildgebenden Untersuchungen oder kleineren Operationen.

Einen weiteren wichtigen Aspekt, sprach Nora Bruns, Fachärztin für Kinderintensivmedizin am Universitätsklinikum Essen, an. Den Müttern unter den Ärztinnen müsse es ermöglicht werden, Beruf und Familie zusammenzubringen. Dazu seien viele kleine Bausteine notwendig. Das beginne mit der Einsicht der Führungskräfte, dass Frauen mit Kindern in der Klinik weiterarbeiten und in Teilzeit gute Arbeit leisten können. Dazu zähle aber auch die Anerkennung, dass man in dieser Zeit weniger arbeite und weniger flexibel ist.

Von Seiten vor allem der jüngeren Kolleginnen und Kollegen erfordere dies wiederum mehr Flexibilität. „Es bedarf auch der Solidarität der Kollegen, die man früher ohne Kinder oder später, wenn die Kinder aus dem Haus sind, zurückgeben kann,“ sagte Bruns, die selber Mutter von drei Kindern ist. Alle Kollegen müssten das mittragen.

Ebenso müssten auf Seiten der Pflegekräfte die Mütter nach der Elternzeit zurück auf die Station geholt werden, sagte Daub. „Wir brauchen Pflege, die wieder zurück ans Bett kommt.“ Dazu seien verlässliche Dienstpläne und eine verlässliche Kinderbetreuung notwendig.

Widerstandskraft des medizinischen Personals stärken

Sasse betonte die Fürsorge für die auf den Kinderintensivstationen arbeitenden Menschen, denn diese Arbeit sei emotional sehr belastend. Hier könnten etwa Anti-Burnout-Programme mit Supervision und Ausbildung für Krisengespräche helfen, um die Resilienz der Mitarbeitenden zu stärken. „Das sind ganz wichtige Bausteine, um die Menschen zu halten und auch anzuwerben.“

Darüber hinaus müssten Auszubildende in der Pflege, die seit wenigen Jahren eine generalisierte Ausbildung durchlaufen, motiviert werden, sich für die Kinderkrankenpflege weiter zu spezialisieren, forderten Daub und Hoffmann.

Brenner betonte zudem, dass sich hochqualifizierte Pflegekräfte auf die Versorgung der Patienten fokussieren müssen. „Wir brauchen Personal, um pflegeferne Aufgaben zu übernehmen.“ So könnten etwa Tätigkeiten der Grundpflege, das Bettenmachen oder -beziehen von Pflegeassistentinnen und Pflegeassistenten ausgeführt werden.

Neben verbesserten Arbeitsbedingungen, etwa durch Ausfallkonzepte und bezahlte Fortbildungen in der Arbeitszeit, forderten die Vertreterinnen und Vertreter der DIVI eine deutlich bessere Bezahlung der Pflegekräfte. Weiterhin bräuchten kritisch kranke Kinder zudem überregionale Strukturen und Netzwerke. Dafür sei der Aufbau telemedizinischer Netzwerke für den Austausch der behandelnden Teams untereinander sowie von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen, um Kinder sicher und von Kinderexperten begleitet zu transportieren, notwendig.

„Wenn alle zuvor genannten Forderungen erfüllt wären, wenn sich der Beruf von Medizinern sowie Pflegenden mit Familie vereinbaren lässt und wenn die stetige Dauerbelastung in den Kliniken aufhört, dann schaffen wir es, uns wieder um alle schwer kranken Kinder mit der notwendigen höchsten Versorgungsqualität kümmern zu können“, sagte Hoffmann.

aks

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