Ärzteschaft

Ambulante Versorgung gefährdet: Freie Heilberufe bitten Bundeskanzler um Hilfe

  • Donnerstag, 19. Oktober 2023
Von links: Martin Hendges, Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), und Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) /picture alliance, Soeren Stache
Von links: Martin Hendges, Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), und Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) /picture alliance, Soeren Stache

Berlin – Die Spitzen der freien Heilberufe appellieren mit einem Notruf an die Bundesregierung, so schnell wie möglich einen Kurswechsel in der Gesundheitspolitik zu vollziehen. Ansonsten werde schon sehr bald eine spürbare Verschlechterung der flächendeckenden Gesundheitsversorgung eintreten, hieß es heute.

Schon im kommenden Frühjahr könne es zu spürbaren Einschränkungen in der ambulanten Versorgung kommen, warnte Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), vor Journalis­ten in Berlin.

Erstmals haben sich KBV, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) und Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) gemeinsam an die Öffentlichkeit gewandt, um in einem dringenden Appell auf die aus ihrer Sicht mehr als schwierige Lage der freiberuflichen Heilberufe hinzuweisen.

„Wir erleben im Moment ein Ausmaß an Frust und Wut, wie wir es noch nie gesehen haben“, erklärte Gassen. Selbst während der Coronapandemie sei die Stimmung unter den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten besser gewesen als heute. Aktuellen KBV-Umfragen zufolge bewerte mehr als die Hälfte von ihnen die eigene Situation als schlecht.

Die KBV werde deshalb nun eine neue Befragung starten, kündigte Gassen an. Seit heute schreibt das Zentral­institut der kassenärztlichen Versorgung (Zi) deshalb alle Praxisinhaber mit der Bitte um Teilnahme an: Es soll eruiert werden, wie die Inhaber persönlich den derzeitigen Alltag in der Praxis erleben und wie sie ihre beruf­liche und wirtschaftliche Situation bewerten.

„Wir sehen, dass die Versorgung an die Wand gefahren wird, teils aus Unwissen, teils aber auch absichtlich“, erklärte Gassen heute. Die Probleme sind seit langem bekannt, würden aber nicht nur nicht angegangen, sondern durch aktuelle Gesetzgebung teils noch verschlimmert: überbordende Bürokratie, unzureichende Vergütung, Fachkräftemangel, eine Digitalisierungspolitik, die sich nicht an den Bedürfnissen der Heilberufler orientiert, sondern ihre Arbeit erschwert.

Hinzu käme ein Mangel an Verständnis für eine präventive Versorgung, wie der KZBV-Vorstandsvorsitzende, Martin Hendges, erklärte. Die Wiedereinführung der Budgetierung im zahnärztlichen Bereich durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) hätten schon jetzt verheerende Folgen für die zahnärztliche Patien­tenversorgung, insbesondere für die neue, präventionsorientierte Parodontitistherapie.

„Parodontitis ist eine komplexe Entzündungserkrankung des Menschen und steht in direkter Wechselwirkung mit Diabetes mellitus und nimmt zudem Einfluss auf weitere schwere Allgemeinerkrankungen“, erklärte er. „Im Sinne einer präventionsorientierten Patientenversorgung ist es zwingend erforderlich, die Leistungen der Paro­dontitistherapie von der Budgetierung noch in diesem Jahr auszunehmen!“

Eine Folge der Politik sowie eines „Sparwahns der Krankenkassen“ seien auch die weiter zunehmenden Arz­nei­mittellieferengpässe, erklärte ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. Die enorme Mehrarbeit, die die Apotheken damit hätten, trotz dieser Engpässe die Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen, werde nicht einmal annähernd ausreichend vergütet.

Im Auftrag der Politik würden die Apotheken immer mehr Aufgaben in der wohnortnahen Versorgung über­neh­men, während die Vergütung trotz steigender Kosten seit elf Jahren nicht angepasst worden sei. „Infolge­dessen befindet sich die Apothekenzahl im Sinkflug“, sagte Overwiening. Um 20 Prozent sei die Zahl in den vergangenen Jahren gefallen, auf 100.000 Einwohner kämen in Deutschland nur noch 21 Apotheken – im europäischen Durchschnitt seien es 32.

„Noch bedeutender ist, dass sich für junge Apotheker die Übernahme oder Neugründung nicht mehr lohnt“, unterstrich sie. Nicht nur sei das Honorar von den vergangenen Bundesregierungen nicht angepasst worden. „Die jetzige Regierung hat es sogar gekürzt.“

Keine Gespräche möglich

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) drohe mit seiner Politik nicht nur die flächendeckend nie­drigschwellige Versorgung zu zerstören, sondern gefährde gleichzeitig eine mittelständisch geprägte Struktur, die für rund eine Million wohnortnahe Arbeitsplätze stehe und einen sozialen Stabilitätsfaktor darstelle.

Gassen, Hendges und Overwiening ließen keinen Zweifel daran, dass sie Lauterbach dabei nicht mehr als den richtigen Ansprechpartner sehen. „Er verweigert sich letztlich dem inhaltlichen Diskurs“, kritisierte Gassen. Für Anliegen und Argumente der Standesvertretungen sei er nicht zugänglich.

„Man könnte sich ja mal hinsetzen und ein konstruktives Gespräch führen, aber das findet nicht statt“, klagte er. Stattdessen würde Lauterbach Standesvertreter „mit Pseudogesprächen zum Kronzeugen angeblicher Ab­sprachen machen“.

Auch Overwiening – die erst vor wenigen Tagen zu einem zweistündigen Gespräch bei Lauterbach geladen war – gab diese Einschätzung wieder: Der Minister habe sich zwar alles angehört und dann damit geschlos­sen, dass er „das mitnimmt“, erzählte sie. „Das ist aber kein Austausch.“

Es gehe deshalb auch darum, Lauterbach und seine Behauptungen „zu enttarnen“: So habe er beispielsweise stets versprochen, dass es unter ihm keine Leistungskürzungen geben werde. Genau das geschehe aber der­zeit. Schon bald werde sich das eindeutig und spürbar zeigen, wenn beispielsweise mehr und mehr Ärzte aus wirtschaftlichen Gründen aus der Versorgung austreten oder ihre Leistungen einschränken, erklärte Gassen: „Das wird zügig geschehen.“

So liege die durchschnittliche Budgetierungsquote bei sieben bis zehn Prozent. „Wirtschaftlich vertretbar wäre es dann eigentlich, jede zehnte Leistung nicht zu erbringen“, sagte Gassen. Auch wegen solcher Regulierungen würden junge Ärzte die Übernahme oder Gründung einer eigenen Praxis heute vor allem als großes wirtschaftliches Risiko wahrnehmen.

Deshalb habe das Bündnis den Weg an die Öffentlichkeit gewählt. Es brauche eine „Sensibilisierung der Pa­tien­ten“ für das, was gerade geschieht, forderte Overwiening. Da mit Lauterbach kaum noch eine konstruktive Zusammenarbeit zu erwarten sei, würden sie sich direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz wenden, hier endlich kraft seiner Richtlinienkompetenz einzuschalten. Scholz werde „einen Brief von uns bekommen, in der Hoff­nung, dass er ihn auch erhält“, kündigte Gassen an.

Unterstützung kam heute aus Bayern. „Der eindringliche Appell der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker ist ein deutlicher Hilferuf“, sagte Bayerns amtierende Gesundheitsministerin Ulrike Scharf. Die Bundesregierung dürfe nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und das ignorieren.

Ärzte, Zahnärzte und Apotheker benötigten ein solides finanzielles Fundament und entsprechende Vorausset­zungen. „Wir brauchen stabile Praxen und Apotheken, keine teuren Parallelstrukturen wie Gesundheitskioske. Die finanziellen Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung müssen dort eingesetzt werden, wo die medizi­nische und pharmazeutische Versorgung der Bevölkerung stattfindet“, sagte sie.

Lauterbach reagierte auf die Kritik auf einer Veranstaltung der Bundesärztekammer zum Thema Künstliche Intelligenz: Er wolle doch noch etwas zu einer Pressekonferenz sagen, auf der „ein Klagelied gegen unsere Gesundheitspolitik angestimmt“ werde. Es sei zwar angemessen, wenn man Kritik äußere. Der Minister wies aber daraufhin, dass man Beitragssatzstabilität erreicht habe. Dafür wolle er sich bei der Ärzteschaft bedan­ken.

Er kündigte erneut die Entbudgetierung der Hausärzte an, die mit einer Entbürokratisierung verbunden wer­den müsse. Weiter verwies er auf die zusätzlichen 5.000 Medizinstudienplätze, die er gemeinsam mit den Ländern auf den Weg bringen wolle.

Auf die von ärztlicher Seite geübte Kritik zu seinem Vorhaben, in Apotheken Screeningverfahren zuzulassen, entgegnete er, dass in diesen Fällen Apotheker in keinem Fall eine ärztliche Funktion übernehmen sollten. Es sei nur eine niedrigschwellige Vorfelduntersuchung geplant. Sollten dabei auffällige Werte auftreten, würden die Patienten der ärztlichen Versorgung zugeleitet, sagte Lauterbach.

lau/mis

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