Ärzteschaft

Tausende Arztpraxen bleiben aus Protest geschlossen

  • Montag, 2. Oktober 2023
/picture alliance, Fabian Sommer
/picture alliance, Fabian Sommer

Berlin – Tausende Haus- und Fachärzte haben heute aus Protest gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregie­rung ihre Praxen nicht geöffnet. Der Virchowbund hatte zu der Aktion aufgerufen, weitere knapp 20 Ärzteverbände schlossen sich an. Der Virchowbund rechnete damit, dass deutschlandweit eine fünfstellige Zahl von Arztpraxen geschlossen bleibt.

Auf der Protestwebseite des Verbands ist von „schmerzhaften Sparmaßnahmen“ die Rede, zu denen die Politik und die Krankenkassen die Praxen seit Jahrzehnten zwängen. Der Protest soll demnach auf den Fachkräftemangel, die aus Sicht der Mediziner ausufernde Bürokratie, auf die Inflation und die hohen Energiekosten, unter denen die Praxen litten, sowie auf die „Spargesetze“ der Bundesregierung aufmerksam machen.

Die Praxen könnten die Patientinnen und Patienten nicht mehr so versorgen, wie sie wollten, beklagte der Bun­desvorsitzende des Virchowbundes, Dirk Heinrich, heute im ZDF-„Morgenmagazin“. Durch Sparmaßnahmen und Leistungskürzungen würden Termine für Patienten „immer rarer“.

Er verwies unter anderem auf die Streichung der sogenannten Neupatientenregelung zu Jahresbeginn, die Ärzten seit 2019 besondere finanzielle Anreize bot, damit sie neue Patienten aufnehmen und kurzfristig zusätzliche Termine anbieten. Dieser Schritt müsse zurückgenommen werden, forderte Heinrich.

Unmittelbar vor dem Protesttag stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Forderungen nach mehr Geld infrage. „Am Brückentag schließen viele Praxen, wie die Apotheker wollen auch sie mehr Geld. Im Mittel (Median) verdienen sie aber nach Abzug aller Kosten um die 230.000 Euro pro Jahr“, schrieb der Sozialdemokrat gestern auf der Internetplattform X (vormals Twitter). Und er fragte – offensichtlich rhetorisch gemeint: „Soll der Beitragssatz für Arbeitnehmer steigen, damit das Honorar weiter steigt?“

Streitpunkt Vergütung

Der Virchowbund nennt andere Summen als Lauterbach und spricht von einem Praxisüberschuss von 172.903 Euro im Jahr und einem Nettoeinkommen – nach Abzug von Altersvorsorge, Kranken- und Pflegeversicherung sowie Einkommenssteuer – von 85.555 Euro.

Schon jetzt sind in Deutschland Tausende Arztsitze in der ambulanten Versorgung nicht besetzt, wofür aus Sicht ärztlicher Verbände neben einem Übermaß von Bürokratie und weiteren Faktoren hauptsächlich auch die Finan­zierung verantwortlich ist.

So hatte der Virchowbund als ersten Ausgleich für Inflation und Kostenexplosion in diesem Jahr ein notwendiges Plus bei den Honorarverhandlungen von 15 Prozent errechnet – das Ergebnis der Finanzierungsverhandlungen zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und den Krankenkassen blieb aber unter vier Prozent. Zudem wurde im Koalitionsvertrag die Entbudgetierung im hausärztlichen Bereich zugesagt, dies ist bislang nicht um­gesetzt.

Der Vorstand der KBV signalisierte „größtes Verständnis“ für die Praxisschließungen. „So schmerzhaft das sein mag: Das Szenario massenhaft geschlossener Praxen wie heute droht als Dauerzustand im ganzen Land“, sagte KBV-Vorstandsvorsitzender Andreas Gassen.

„Die Kolleginnen und Kollegen sowie ihre Teams sind am Limit.“ Mit der Fortsetzung der aktuellen Politik von Bundesgesundheitsminister Lauterbach werde es die qualitativ hochwertige haus- und fachärztliche Versorgung in der jetzigen Form nicht mehr lange geben.

„Der Bundesgesundheitsminister nimmt billigend in Kauf, dass die Praxen kollabieren und die ambulante Versor­gung in Deutschland und Hessen mehr denn je ins Wanken gerät“, warnten die Vorstandsvorsitzenden der Kassen­ärztlichen Vereinigung (KV) Hessen, Frank Dastych und Armin Beck, vor dem Aktionstag.

John Afful, Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg, betonte, die Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesregie­rung seien „verheerend“. Ohne eine tragfähige Finanzierung komme es zu weiteren Praxisschließungen und län­geren Wartezeiten für Patienten. „Auch wenn der Bundesgesundheitsminister immer wieder das Gegenteil be­hauptet – Einschränkungen in der Versorgung werden unvermeidlich sein.“

Auch der Vorstand der KV Schleswig-Holstein (KVSH) schloss sich den bundesweiten Ärzteprotesten an und un­terstützt die Forderungen der Niedergelassenen. „Die KVSH teilt die Befürchtungen, die zahlreiche Niedergelasse­ne wegen der aktuellen Gesundheitspolitik des Bundes haben“, betonte Monika Schliffke, Vorstandsvorsitzende der KVSH. Möglicherweise werde den Praxen künftig nichts anderes übrigbleiben, als ihre Leistungen zu reduzieren und an das vorhandene Honorar anzupassen.

Die schleswig-holsteinische Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (CDU) äußerte Verständnis für die Proteste. Es sei „nicht zielführend“, wenn Ärzte sich zunehmend finanziellen Problemen und wirtschaftlichen Sor­gen sowie der Personal- und Nachfolgesuche widmen müssen. „Der Lösungsansatz von Politik muss darin liegen, mit allen Beteiligten gemeinsam ins Gespräch zu kommen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.“ Eine we­sentliche Stellschraube zur Verbesserung der Situation stelle die im Koalitionsvertrag vorgesehene Entbudge­tierung dar.

„Es ist nicht die Aufgabe der Politik, einen Streik zu bewerten oder zu verurteilen“, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Andrew Ullmann, der Mediengruppe Bayern. Die niedergelassenen Ärzte würden bei der „notwendigen und überfälligen Reform des Gesundheitswesens“ dringend gebraucht.

Die gesundheitspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Tino Sorge (CDU), sagte der Mediengruppe, Lauterbach habe es „geschafft, innerhalb von zwei Jahren große Teile des Gesundheitswesens gegen sich aufzubringen.“

afp/dpa/aha

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung